Die Feen - Hallmann, M: Feen
dort draußen nicht gern stehen bleiben wollte, gestand er sich nicht ein. Stattdessen legte er sich eine Geschichte zurecht, an der er während des Laufens herumträumen wollte. Ein Bote, der von der Burg ausgesandt wurde und eiligst das Dorf erreichen musste. War der Burgherr krank? Nein, entschied Benny, lieber seine Tochter. Das kurz aufblitzende Bild dieser Tochter hatte verdächtige Ähnlichkeit mit der blassen Miss Fish, was er schnell verdrängte. Sie war nicht krank, beschloss er, sondern durch ein Attentat schwer verletzt. Ihre einzige Hoffnung, einen Arzt, der bis auf sein schon fortgeschrittenes Alter gänzlich gesichtslos blieb, quartierte Benny in dem Haus ein, wo er Leslie zum ersten Mal gesehen hatte. Bis dorthin wollte er laufen und dann umkehren – etwas langsamer als auf dem Hinweg, dem langsamen Runterkommen des Pulses und natürlich der Langsamkeit des betagten Arztes geschuldet.
So versunken war er in die angefangene Geschichte, dass er das Geräusch erst verspätet registrierte. Ein lautes Platschen, das erst seine Ohren erreichte und dann, mit gut zwei Herzschlägen Verspätung, seinen Verstand. Er zuckte zusammen und starrte in die Dunkelheit, die neben der Brücke über dem Wasser kauerte, aber er war nicht ganz sicher, wo das Platschen hergekommen war. Nur, dass es nach etwas Großem geklungen hatte, das ins Wasser fiel. Oder sprang.
Ein paar größere Wellen schwappten aus der Richtung des Sees auf die Brücke zu, dann glättete sich die Oberfläche wieder bis auf ein leichtes Kräuseln. Benny bekam eine Gänsehaut, es war, als liefen Dutzende winziger, eiskalter Käfer über seinen Rücken und schwärmten vom Nacken aus über Schultern und Arme.
»Hallo?«
Keine Antwort. Natürlich nicht, dachte er und starrte weiter ins Dunkel, aber seine Augen waren vom Laternenlicht geblendet, und jenseits des schwachen Scheins sah er rein gar nichts.
Vielleicht war es ein Instinkt, vielleicht auch nur seine etwas überreizte, durchs Tagträumen geschulte Fantasie, aber auf einmal wusste er, dass ihn etwas beobachtete. Er wusste es mit einer Sicherheit, die keine Fragen zuließ. Spürte unsichtbare Augen, die auf ihm ruhten, und die Gegenwart von etwas, das nicht von dieser Welt war. Etwas Großes.
Etwas Hungriges.
Das Etwas dort draußen im Dunkeln schnaubte kurz auf.
Bennys Mund wurde trocken, die Eingeweide zogen sich zu einem dicken Knoten zusammen. Ein seltsamer Geschmack perlte auf seiner Zunge auf, dazu drang ihm der passende Geruch in die Nase: Algen. Fisch und Algen.
Sein Herzschlag kam ihm langsam und sehr regelmäßig vor, die Zeit seltsam gedehnt. All seine Muskeln spannten sich. Furcht schoss ihm durch den Leib, ein unvertrautes Gefühl, er war nicht oft ängstlich, aber jetzt war ihm hundeelend vor Angst.
Etwas knurrte. Ein leises, drohendes Grollen. Der Ursprung dieses Grollens schien Benny grässlich weit über dem Erdboden zu liegen, als wäre das Geschöpf, das dort knurrte, gut mannshoch. Ihm wurden die Knie weich. Gleichzeitig feuerte sein Hirn den Befehl ab, zu laufen wie noch nie in seinem Leben. Er taumelte einen Schritt zurück und hielt sich am Brückengeländer fest. Er konnte nicht laufen, es war unmöglich, seine Beine würden beim ersten Schritt nachgeben, als wären sie mit Yorkshire Pudding gefüllt.
Das Grollen verklang. Es platschte erneut, diesmal noch lauter, und in der nächsten Sekunde trat ein hochbeiniges, zottiges Geschöpf in den Schein der nächsten Laterne.
Wolf, durchfuhr es Benny.
Das zottige Wesen senkte den Kopf und hechelte.
»Scheiße«, brachte Benny kläglich heraus. »Scheiße!« Er versuchte zu lachen, aber es wurde nur ein Krächzen. »Du!«
Der riesige graue Hund legte den Kopf schief und betrachtete ihn eingehend. Es war ein Wolfshund – wenn es davon in Glenshee nicht mehrere gab, dann derselbe, der ihm an seinem ersten Tag bis zur Brücke gefolgt war. Im Laternenlicht glänzten seine Augen gelb.
»Ich bin’s«, sagte Benny verunsichert. »Du kennst mich doch?«
Der Wolfshund gähnte und entblößte lange Zähne, die im Laternenlicht ebenfalls gelb schimmerten. Dann trottete er auf Benny zu, brummte freundlich und schob seine Schnauze unter Bennys Hand. Er kam Benny noch größer vor als bei ihrer ersten Begegnung. »Schon gut«, flüsterte er. »Schon gut. Scheiße, bin ich froh, dass du es nur bist. Ich dachte …« Er lachte leise und zittrig auf. »Darf ich keinem erzählen, was ich dachte. Was dachte ich eigentlich? Dass
Weitere Kostenlose Bücher