Die Feinde des Geisterjaegers
wie es ihrem Gefährten Beißer ergangen war.
Doch wenn ich eine Hexe frei herumlaufen ließ, würde ich meine Pflicht vernachlässigen, denn wenn ich nichts unternahm, würde sie sich vielleicht jemand anderen schnappen. Möglicherweise ein Kind. Nein, ich musste sie bekämpfen.
Die Hexe war bis auf fünfzig Schritte herangekommen, als ich meine Meinung wieder änderte. Ihr Gesicht war nicht mehr im Schatten verborgen, und ich konnte sehen, dass ihr linkes Auge geschlossen war. Ich erkannte sogar den scharfen Knochensplitter, der die Augenlider zusammenhielt. Es war Morwena! Wenn sie ihr Blutauge aufriss, würde ich gelähmt, erstarrt, hilflos sein.
Kralle knurrte, doch es war zu spät. Die Hexe griff sich ans Auge und zog den Splitter heraus. Das blutgefüllte Auge öffnete sich weit und starrte mich direkt an. Ich war bereits verloren. Ich spürte, wie meine Kräfte schwanden, wie der Wille, mich zu bewegen, mich verließ. Ich konnte nur noch das rote Auge sehen, das immer größer und leuchtender wurde.
Plötzlich vernahm ich ein Grollen und spürte einen Aufprall im Rücken, der mich umwarf. Ich landete mit dem Gesicht voran auf dem Boden und schlug mir dabei den Kopf an. Einen Augenblick lang war ich benommen, doch dann spürte ich warmen Atem und Kralle leckte mir über das Gesicht. Ich streckte die rechte Hand aus und tätschelte sie, und merkte dabei, dass ich mich wieder bewegen konnte. Sofort verstand ich. Der Hund hatte nicht unter dem Bann der Hexe gestanden. Morwenas Blutauge konnte immer nur einen Menschen oder ein Tier auf einmal bannen. Kralle hatte mich angesprungen, mich zu Boden geworfen und so die Macht des Auges gebrochen.
Schnell kniete ich mich hin, hielt aber den Blick gesenkt. Ich hörte die Füße der Hexe über den Boden schmatzen, die in vollem Lauf auf mich zustürmte. Nicht hinsehen!, sagte ich mir und hielt den Blick auf den Boden geheftet. Nur nicht in dieses blutgefüllte Auge sehen!
Blitzartig war ich wieder auf den Beinen und floh vor ihr zum Ufer, dicht gefolgt von Kralle. Meine Silberkette hatte ich noch in der linken Hand, aber wie sollte ich sie damit besiegen, wenn mich ein einziger Blick auf meine Gegnerin erstarren lassen würde? Mit zitternden Knien rannte ich – ich war bestimmt nicht schnell genug, um ihr zu entkommen. Ich hätte mich gerne umgesehen, um zu wissen, wie nah sie mir war, doch aus Furcht vor dem lähmenden Auge wagte ich es nicht. Jeden Moment fürchtete ich, ihre Krallen in meiner Wange oder in meiner Kehle zu spüren.
»Kralle!«, schrie ich, als ich auf den Sand sprang. Der Hund keuchte neben mir her und ich fühlte mich mit jedem Schritt zuversichtlicher. Für den Augenblick waren wir vor der Hexe sicher. Ich wusste, dass Morwena das Salz, das die Flut im Sand hinterlassen hatte, nicht vertrug. Mit bloßen Füßen konnte sie darauf nicht laufen. Doch wie lange konnten wir hier draußen bleiben? Sie würde uns beobachten und uns auflauern, wenn wir den Sand wieder verließen. Und was würde ich tun, wenn die Flut kam?
Selbst wenn ich es schaffen sollte, ihr zu entkommen und den Sand zu verlassen, würde mir Morwena bis zur Mühle folgen. Ich war jetzt schon erschöpft, doch ich wusste, dass eine so starke Hexe wie Morwena nie ermüden würde. Am Rand der Bucht entlang zu gehen, mit ihr und möglicherweise noch anderen Hexen im Nacken, war bestimmt keine gute Idee.
Wenn nur der Sandführer hier wäre, um mich hinüberzugeleiten. Doch er war nirgendwo zu sehen. Das Meer schien sehr weit weg, doch ich hatte keine Ahnung, ob der Weg sicher war. Arkwright hatte mir gesagt, wie gefährlich es bei Flut war. Reisende ertranken und Kutschen wurden samt Pferden und Passagieren hinweggerissen und tauchten nie wieder auf.
Wäre Kralle nicht gewesen, hätte ich noch stundenlang gezögert, doch sie schoss plötzlich von mir weg zum Meer hin, drehte sich dann um und bellte. Ich sah sie nur verwirrt an. Sie kam zurückgerannt und lief gleich wieder los, als wolle sie, dass ich ihr folgte. Ich zögerte noch immer, doch als sie zum dritten Mal kam, schnappte sie nach meiner Hose und zerrte heftig daran, sodass ich fast stolperte. Dann rannte sie wieder los.
Dieses Mal folgte ich ihr. Es schien sinnvoll, überlegte ich, denn sie musste mit ihrem Meister hier schon viele Male entlanggegangen sein und kannte den Weg wahrscheinlich. Ich sollte auf ihre Instinkte vertrauen und ihr folgen. Wenn der Sandführer erst vor Kurzem losgegangen war, würde sie mich
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