Die fernen Tage der Liebe
korrigierte
Fassung der jüngsten Version seines College-Aufsatzes. Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen.
»Deine Mutter hat mir gesagt, morgen ist Abgabeschluss, richtig?«, fragte Mike.
Bobby nickte kaum merklich.
»Na fein. Hättest du vielleicht Interesse, dir die Vorschläge mal anzuschauen?«
In den drei Monaten, seit sie sich kannten, war Bobby noch nie im Entferntesten das gewesen, was man allgemein unter »höf lich « verstand, aber er war Nick auch noch nie so offen feindselig begegnet, wie sein funkelnder Blick es jetzt vermuten ließ.
Vielleicht war er nur wütend, dass er die Sache nicht mehr länger aufschieben konnte. Vielleicht war er sauer, weil Nick die
Frechheit besessen hatte, nach zwei Versionen immer noch Verbesserungsvorschläge zu machen. Oder vielleicht – und Nick musste
zugeben, dass ihm diese Haltung nicht fremd war, wenn er seine Artikel an die Redaktion schickte – dachte Bobby jaauch, sein Aufsatz sei eigentlich schon perfekt, und nahm jeden Kommentar übel, die dessen Genialität in Frage stellte.
Nicht, dass Nick bei früheren Anlässen Grund gehabt hätte, irgendwelche Anzeichen von Dankbarkeit zu vermuten. Wann immer
Peggy nicht gerade mit irgendeiner Wohltätigkeitssache oder einer Familienangelegenheit beschäftigt war und sich bereitfand,
»zusammenzukommen« (komischer Ausdruck für eine Verabredung), zog Bobby es vor, Nick eher zu ignorieren, als den Anweisungen
seiner Mutter zu folgen, während Peggy bei ihren Vorbereitungen fürs Ausgehen noch »ein letztes Mal Hand anlegen« wollte.
Stets hatten diese Anweisungen gelautet, mit »Mr. Warrington« die Weiterentwicklung des Aufsatzes zu besprechen, und stets
hatte Bobby seit Nicks vorherigem Besuch kaum ein Wort verändert. Aber da klar war, dass sie beide nicht über die Trefferquoten
im Baseball oder die Spielauslosung der Football-Liga diskutieren würden, hatte Nick meistens nur den Text redigiert und Bobby
mit finsterem Blick dabeigesessen.
Eigentlich mochte Nick den Aufsatz sogar mehr als anscheinend Bobby selbst. Anstatt irgendeiner Schleimscheiße, warum er in
den bevorstehenden Jahren auf der Universität seinen Horizont zu erweitern gedenke, hatte Bobby über eine Obdachlose geschrieben,
die er oft auf den Straßen von Woodlake sah. Und nicht nur sie beschrieb er sehr anschaulich, wenn auch grammatikalisch inkorrekt,
sondern auch sein »unbehagliches Gefühl«, wenn er in einem teuren Wagen an ihr vorbeifuhr. Und anstatt nun irgendeine Tirade
über die Ungerechtigkeit der heutigen Gesellschaft loszulassen und zu salbadern, dass ein Studium an der Universität X ihn
darauf vorbereiten werde, sich solcherlei wichtigen Themen eines Tages zu widmen, die ihm immer schon brennend am Herzen gelegen
hätten blablabla, wählte Bobby einen anderen Ansatz. Er »gestand«, dass die alte Frau in ihrem Karton
nichts
an seinem Wunsch geändert habe, Geld zu verdienen – und zwar möglichst viel. Was diese alte Frau aber ausgelöst habe, sei
die Erkenntnis, dass er zu denen gehörte, die Glück gehabt hatten. Und selbst, wenn er irgendwann für eine große Firma arbeiten
und viel Geld verdienen und damit sogar irgendwie in direkter oder indirekter Weise dazu beitragen werde, dass sich die Kluft
zwischen Arm und Reich in diesem Land noch vergrößerte, werde er sich doch immer daran erinnern, dass er im Vergleich zu dieser
Frau und Abertausenden wie ihr Glück gehabt hatte. Und mit dem Glück einher ging die Verantwortung, es nicht zu vermasseln.
»Versager«, schrieb Bobby als letzten Satz, »bauen nur Scheiß.«
Nick gefiel zwar die jugendhafte Offenherzigkeit des Aufsatzes, allerdings war er sich nicht sicher, ob irgendjemand in der
Zulassungsstelle einer Universität sich ausgerechnet auf einen Kandidaten stürzen würde, dessen Hauptmotivation darin bestand,
möglichst keine Fehler zu machen. Aber eingedenk der Ironie, dass er ja selbst sehr darum bestrebt war, sein Verhältnis zu
Bobby bloß nicht zu »vermasseln«, hatte Nick sich ursprünglich für eine sehr zurückhaltende Bearbeitung entschieden. Freundlich
hatte er vorgeschlagen, einige Sätze umzuformulieren, um dem Ganzen einen etwas positiveren Drall zu geben, ohne dass es einen
Ausdruck oder die ihm eigene Verve verlor. Er hatte Bobby den richtigen Gebrauch des Semikolons beigebracht, die richtige
Setzung von Kommas und Punkten bei wörtlicher Rede sowie die logische Struktur eines kraftvollen,
Weitere Kostenlose Bücher