Die fernen Tage der Liebe

mit dem Mumm, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen,
     ihre Sachen zu packen und nach North Beach in San Francisco zu ziehen, ohne sich von irgendjemandem aufhalten zu lassen.
    April wälzte sich auf den Bauch. Was sollte sie denn schon machen? Sie hatte nicht das Geld, um sich in ein Flugzeug odereinen Bus nach San Francisco zu setzen. Und es würde noch … den Rest vom Juni, dann Juli, August und den halben September
     … – vier Scheißmonate dauern, bis sie wenigstens eine vorläufige Fahrerlaubnis bekommen konnte.
    Na prima
, rief Roxie von der Decke,
dann viel Spaß mit Marcy und Hank diesen Sommer.
    April haute mit der flachen Hand neben ihrem Kopf aufs Bett. Wie gern wäre sie jetzt bei irgendjemand anderem und würde irgendwo
     anders leben!
    Ruckartig setzte sie sich auf, so als hätte die leibhaftige Roxie den Arm ausgestreckt, sie am Kragen gepackt und hochgezogen.
     Aus Leibeskräften sang sie:
    What you thinkin’ about, Mr. Ear Hair
    Sittin’ all alone in your newspaper chair?

13
    Mike Warrington beobachtete seinen Boss. Wayne versuchte es zu überspielen, aber Mike kannte ihn schon zu lange und zu gut,
     um nicht zu registrieren, dass Waynes Augen heimlich der Kellnerin folgten, die ihm gerade einen Jack Daniels auf Eis und
     Wayne die Rechnung gebracht hatte. Sie konnte kaum älter sein als ihrer beider Töchter.
    »Tja, die Zeiten haben sich geändert, alter Kumpel«, sagte Mike.
    »Wen nennst du hier alt?«, fragte Wayne grinsend. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er sein Portemonnaie hervor und
     inspizierte die Rechnung.
    »Vor nicht allzu langer Zeit hättest du es noch mit deinen Anmachsprüchen von früher versucht. Zum Beispiel: ›Wie lange arbeiten
     Sie schon hier? Haben Sie einen Freund? Wann ist Ihre Schicht zu Ende?‹«
    Wayne schenkte ihm ein reuiges Kichern.
    »Als ich das zum letzten Mal versucht habe, hatte ich noch Haare auf dem Kopf.«
    Mike zwang sich zu einem kurzen Auflachen. Er wusste genau, was Wayne mit dieser Aussage bezwecken wollte: ein inszeniert selbstironisches Zückerchen, das dem Gegenüber vermitteln sollte:
Du hast jemanden vor dir, der sich in seiner Haut wohlfühlt, einen Mann, der es nicht nötig hat, andere zu beeindrucken, eine
     Führungskraft, die weiß, wie gut es ankommt, wenn man sich schon malselbst auf den Arm nimmt.
Genau diese Art von bewusst eingesetzter Witzelei – oft bei Kunden, gezielt bei Vorgesetzten und gelegentlich auch bei Kollegen
     und Mitarbeitern – hatte Wayne geholfen, zu dem zu werden, was er heute war: Gesamtverkaufsleiter für Nordamerika. Mike war
     einer seiner zehn direkten Untergebenen, daneben gab es noch Dutzende indirekter. Aber bei ihm hätte Wayne sich diesen Satz
     ruhig verkneifen können, fand Mike. Denn was Mike heraushörte, war:
Kann sein, dass mir solche Sachen noch in den Sinn kommen, aber ich rede nicht mehr darüber wie ein Pennäler. Ich bin inzwischen
     erwachsen, und dir würde ich das auch raten.
    Mike hatte nie in den Vertrieb gewollt. Er hatte sich sogar geschworen, jeder Ausbildung und jedem Beruf aus dem Weg zu gehen,
     die auch nur danach rochen, als trete er in die Fußstapfen seines Alten. In der Auslosung zur Einberufung nach Vietnam hatte
     er eine hohe Nummer gezogen, also hatte er nicht einmal in Erwägung ziehen müssen, sich etwa freiwillig zu verpflichten. Sein
     Vater hatte Mike geraten, etwas Vertriebliches zu machen.
Wenn du auf Provisionsbasis arbeitest, kannst du dich dumm und dämlich verdienen
. Prompt hatte Mike den ersten Job angenommen, der ihm angeboten wurde und nichts mit Verkaufen zu tun hatte, bei einer großen
     regionalen Bank. Aber schon bald hatten ihm die Augen getränt vor lauter Zahlenreihen, und der Kopf hatte ihm dermaßen gedröhnt
     von dem Fachchinesisch über Eigenkapital, Startkapital und periodenbezogene Verzinsung, dass er inzwischen schon dachte, vielleicht
     hätte er sich doch lieber beim Militär verpflichten sollen. Damals hatte er begonnen, die Anzeigen zu durchforsten.
    Er und Wayne hatten am selben Tag angefangen, als Vertreter für die »Kaltakquise«. Die ersten Monate, beinahe ein Jahr lang,
     hatten sie beide sich zusammengetan, um kleine bis mittlere Maschinenbetriebeüberall in Ohio, Michigan, Indiana und Illinois zu besuchen. Wayne hatte damals noch erheblich mehr besessen als nur ein volles
     Haarkleid. Er war voller Tatendrang. Wayne war es, der sie immer wieder antrieb, am Ende eines langen Tages doch noch bei
     einem weiteren