Die fernen Tage der Liebe
verließ Mike die Wohnung, bevor sie aufgewacht war. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihr unter die
Augen zu treten, nachdem er sich so zum Narren gemacht hatte und einfach zusammengebrochen war. Er brachte es nicht über sich,
sie an diesem Tag anzurufen. Oder tags drauf. Aber am dritten Tag musste er sie unbedingt sehen, ihre Gegenwart spüren. Als
er sie ans Telefon bekam, legte sie auf.
Er brauchte mehrere Tage, aber schließlich willigte sie ein, sich mit ihm zum Mittagessen zu treffen. Er entschuldigte sich.
Er versuchte zu erklären, dass er ihr etwas anvertraut hatte, das er bisher kaum sich selbst eingestanden hatte. Und dass
er sich für sein Verhalten schämte.
»Erspar mir diese Macho-Scheiße«, erwiderte sie.
Mike war verblüfft, wie gefühllos sie sein konnte. War das dieselbe Frau, die mit ihm zusammen geweint hatte, die ihn langsam
und zärtlich ausgezogen hatte, die ihn beim Aufknöpfen und Aufziehen geküsst und ihm zugeflüstert hatte, alles werde wieder
gut?
Mike erinnerte sich noch an die quälend langen Tage danach. Er schickte Blumen. Er hinterließ lange, zerknirschte Nachrichten
auf dem Anrufbeantworter. Er flehte sie um eine zweite Chance an. Irgendwann war sie schließlich einverstanden, sich wieder
mit ihm zu treffen. Aber sie erklärte ihm auch, es sei ein Fehler gewesen, dass sie miteinander geschlafen hatten. Nicht noch
einmal … bis sie verheiratet waren.
Es war so altmodisch, so unfassbar antiquiert und verklemmt – Mike erkannte, dass sie genau die Richtige für ihn war.
Und jetzt hatte er erneut Bekanntschaft mit ihrer Fähigkeitgemacht, ihn ganz plötzlich wegzustoßen, nach all den Jahren. Mike nippte an seinem Whiskey, und was immer im Fernsehen lief,
wurde ersetzt durch das Bild ihres Gesichts – ihrer Miene beim Umdrehen, nachdem Stephanie gegangen war und sie die Tür zugemacht
hatte.
So oft war er im Laufe der Jahre nur um Haaresbreite davongekommen. Wer war die Erste gewesen? Natürlich wusste er das noch.
Das erste Mal, wenn man seine Frau betrügt, vergisst man nicht. Es war Tys Vorschulbetreuerin gewesen. Der Name war ihm entfallen.
Danach kam Barb Thomas, eine von Colleens Freundinnen im Willkommenskomitee für neue Anwohner. Danach eine der Rezeptionistinnen
aus dem Marriott in Indianapolis, wo er immer abgestiegen war, als er Kundenbetreuer von GM gewesen war. Zur gleichen Zeit,
meistens sogar auf derselben Reise, traf er sich mit Rita, der mit Gläsern um sich werfenden Einkaufsleiterin von American
Aeronautics in Louisville. Mike war sich sicher, dass sie Colleen anrufen würde, sobald er es an der Zeit fand, die Sache
zu beenden. So was ließ eine Rita nicht mit sich machen. Ihre Versetzung in den Westen rettete ihn.
Am knappsten war es bei Cary Alcott geworden, der Jugendgruppenleiterin der Vereinigten Kirche Christi. Wenn Mike einmal zur
Kirche ging, was selten genug war, fiel ihm jedes Mal auf, dass Cary beim Gottesdienst mitwirkte. Entweder übernahm sie das
Ansingen der Kirchenlieder, oder sie las aus der Bibel vor oder verlas am Ende des Gottesdienstes die Ankündigungen. Sie hatte
ein hübsche Figur und ein sittsames Auftreten, aber Mike vermutete von Anfang an, dass sich unter dem frommen Mäntelchen eine
umso ergötzlichere Sünderin verbarg. Als Cary ihn also irgendwann wegen einer Anzeige im Gemeindeblättchen ansprach, bot er
an, den Scheck persönlich bei ihr vorbeizubringen. Cary gelangte zu der Überzeugung, dass ihr ehewidrigesStelldichein, nur weil es sich im Kellerbüro zugetragen hatte, also gewissermaßen im Fundament der Kirche selbst, von Gott
gesegnet sei. Über Gott sprach sie viel. Dass Gott ihr Verhalten missbilligte – obwohl er es andererseits doch auch gutheißen
musste, schließlich hatte er zugelassen, dass sie sich in Mike verliebte. Aber dann schickte Gott einen Knoten in Carys rechte
Brust. Mike hörte nichts mehr von ihr, nachdem ihr Mann sie zur Therapie nach Minneapolis gebracht hatte.
Die Wege des Herrn sind unerforschlich, dachte er und goss sich noch ein bisschen Jack in den Plastikbecher. Da waren auch
noch andere gewesen. Am Anfang hatte Mike noch alle gewusst. Irgendwann dann nicht mehr. Als die Sache mit Stephanie anfing,
hatte er nicht versucht, sich einzureden, sie sei die Letzte. Er hatte gar nicht vor, dass es eine Letzte gab. Wahrscheinlich
würde er immer so weitermachen, bis er erwischt wurde – oder eben nicht.
Und jetzt war es
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