Die fernen Tage der Liebe
passiert. Er musste an ein Foto denken, das er in der Zeitung gesehen hatte, von der Beerdigung des französischen
Präsidenten oder Premierministers oder wem auch immer. Seine Geliebte und sein uneheliches Kind hatten weinend gleich neben
dem Sarg gestanden, vor aller Augen. Jeder wusste Bescheid. Manche Sachen hatten die Franzosen eben drauf.
Mike schloss die Augen. Er überlegte, ob er den Becher nicht lieber neben dem Stuhl auf den Boden abstellen sollte. Er wollte
nicht wieder alles in seinen Schoß verschütten wie gestern Abend, als er plötzlich aufgewacht und sein Schritt ganz nass und
kalt gewesen war. Er konzentrierte sich auf die Wärme des Whiskeys, das benebelte Schwirren. Und dann schwirrte tatsächlich
etwas: sein Mobiltelefon, das er auf Vibrieren gestellt hatte, damit es während seines Termins mit der »Vermittlungsspezia listin «, dieser dickbusigen Dumpfbacke, nicht klingelte. Ruckartigsetzte er sich auf und verschüttete dabei prompt den Drink in seinen Schoß. Erst als er aufstand und nach einem Ort suchte,
wo er den Becher abstellen konnte, merkte er, dass er zu viel intus hatte. Als er endlich das Telefon aus der Hosentasche
hervorgekramt hatte, hatte der Anrufer schon aufgelegt. Er sah in der Liste der entgangenen Anrufe nach und stellte fest,
dass es Colleen gewesen war. So ein Mist! Bestimmt hatte sie angerufen, um ihn zu bitten, dass er wieder nach Hause kam. Er
fing an, ihre Nummer zu wählen, ihrer beider Nummer, doch dann hielt er inne. Vielleicht rief er besser später an und ließ
sie erst ein bisschen schmoren. Er ging ins Bad und versuchte, mit einem Handtuch etwas von dem Whiskey aufzusaugen. Kaum
war er fertig, vibrierte es wieder. Diesmal war es das Signal für eine Sprachnachricht. Mike grinste und beglückwünschte sich,
dass er nicht als Erster angerufen hatte. Er war schon versucht, zu packen, nach Hause zu fahren und alle zu überraschen.
Aber zuerst würde er die Voicemail-Abfrage anrufen. Er wollte ihre Reue hören und am liebsten noch ihr Flehen.
Ich bin es. Ich habe einen Anruf von April bekommen, Marcys Tochter. Sie hat sich komisch angehört. Wollte mir aber nicht
sagen, was los ist. Du sollst sie auf ihrem Mobiltelefon anrufen. Die Nummer ist: 606 553 0749. Ruf sie sofort an.
Das war alles. Nichts von wegen
Komm nach Hause, die Kinder vermissen dich und ich auch.
Nichts.
Mike goss seinen Plastikbecher wieder voll. Im Geiste spielte er die Nachricht noch einmal ab und wertete Colleens Tonfall
nach versteckten Botschaften aus, irgendeinem Signal. Nichts.
Was konnte die doch für ein eiskaltes Weib sein.
Durch den Whiskeyschleier hindurch kreischte ihn der Name April an. Die letzte Woche über hatte er es vorgezogen, sich garnicht erst um den ganzen Unfug zu kümmern, der sich da drüben in Woodlake zusammenbraute. Aber wenn jetzt schon die Vermisste
selbst bei ihm anrief, blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Er musste zurückrufen, auch wenn ihm dieser Anruf angesichts der
Versuche, die er brauchte, um auf der Tastatur überhaupt die richtige Nummer einzugeben, von Mal zu Mal suspekter wurde.
»Hallo?« Die Stimme hörte sich älter an, als er erwartet hatte. Erwachsen, aber unsicher. Nein, besann er sich, so redeten
diese Teenager heute doch alle. Jeder Satz hörte mit einem Fragezeichen auf.
»April?«
»Ja?«
»Hier ist Mike. Dein … Onkel. Onkel Mike.«
»Oh, hallo.« Sie hörte sich überhaupt nicht an, als sei sie irgendwie mitgenommen. Eher so, als sei sie überrascht, von ihm
zu hören. Was war da los?
»April, wo bist du?«
Es entstand eine lange Pause.
»April?«
»Kann ich dir nicht sagen. Spielt auch keine Rolle.«
»Deine Mutter macht sich fürchterliche Sorgen um dich.« Mike hatte noch gar nicht mit Marcy gesprochen, ging aber davon aus,
dass er mit dieser Annahme nicht ganz falsch lag. »Ich weiß nicht, was dein Großvater versucht zu …«
»Er wollte, dass ich dir eine Nachricht überbringe.«
»Was?«
»Er sagte, eigentlich wollte er sie dir per Post schicken. Aber dann hat er es vergessen. Manchmal ist er ein bisschen durcheinander.«
Jetzt hörte auch Mike das »Komische« an April, das Colleen erwähnt hatte.
»April, sag mir, wo du bist.«
»Kann ich nicht. Aber Grandpa will, dass ich dir Folgendes ausrichte.«
»Was?«
»Ich glaube, das ist keine so gute Idee.«
»Natürlich ist das eine gute Idee. Du musst es mir sagen.«
»Das war schon die Nachricht.«
»Was war die
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