Die Festung der Perle
stinkend. Wenn Melniboné versinkt, verehrter Zauberer-Abenteurer, wird es so sein, wie Quarzhasaat jetzt versinkt…«
»Mit philosophischem Geschwätz befassen wir uns nicht«, unterbrach ihn Manag Iss ungeduldig. »Wir stellen die Motive oder Ideen unserer Auftraggeber nicht in Frage. So steht es in unseren Statuten geschrieben.«
»Und die müssen unter allen Umständen befolgt werden!« Elric lächelte. »Und so feiert ihr eure Dekadenz und wehrt euch gegen die Realität.«
»Geh jetzt!« sagte Oled Alesham. »Es ist nicht deine Sache, uns über Moral zu belehren. Das müssen wir uns nicht anhören. Wir sind keine unwissenden Schüler mehr.«
Elric nahm die milde Rüge hin und wendete sein müdes Pferd wieder in die Richtung zur Oase der Silberblume. Er verschwendete keinen einzigen Blick zurück, war aber sicher, daß die Zauberer-Abenteurer aufgeregt diskutierten. Fröhlich pfiff er vor sich hin. Die Rote Straße zog sich dahin, die von den Feinden gestohlene Energie versetzte ihn in eine euphorische Stimmung. Seine Gedanken weilten bei Cymoril und seiner Rückkehr nach Melniboné\ Er hoffte, das Überleben seines Volkes zu sichern, indem er ihm eben die Veränderungen bringen würde, von denen er bei den Zauberer-Abenteurern gesprochen hatte. In diesem Augenblick schien ihm sein Ziel nähergerückt. Sein Kopf war klarer als seit vielen Monaten.
Die Nacht senkte sich schnell herab, und mit ihr fiel die Temperatur. Der Albino zitterte vor Kälte. Seine gute Laune war verflogen. Er holte aus den Satteltaschen schwerere Kleidung und legte sie an. Dann band er das Pferd fest und machte ein Feuer. Von dem für ihn so notwendigen Elixier hatte er seit der Begegnung mit den Zauberer-Abenteurern nichts angerührt. Allmählich verstand er die Wirkungsweise besser. Die Gier danach war schwächer geworden, obwohl er sie noch spürte. Aber er sah Hoffnung, daß er sich aus der Abhängigkeit befreien konnte, ohne weiter mit Lord Gho verhandeln zu müssen.
»Alles, was ich tun muß«, sagte er vor sich hin, als er etwas von den ihm mitgegebenen Speisen zu sich nahm, »ist, dafür zu sorgen, daß ich wenigstens einmal pro Tag von den Männern der Nachtfalter-Bruderschaft angegriffen werde…« Danach verstaute er die Feigen und das Brot, wickelte sich in seinen Umhang und legte sich schlafen.
Seine Träume waren fremd und gleichzeitig vertraut. Er befand sich in Imrryr, der Träumenden Stadt. Cymoril saß neben ihm, als er sich auf dem Rubinthron zurücklehnte und seinen Hof betrachtete. Aber es war nicht der Hof, den die Herrscher von Melniboné seit Tausenden von Jahren gehalten hatten. Dies war ein Hof, an den Männer und Frauen aus allen Nationen gekommen waren, aus den gesamten Jungen Königreichen, aus Elwher und dem auf keiner Karte verzeichneten Osten, aus Phum, ja sogar aus Quarzhasaat. Neues Wissen und Philosophie wurden ausgetauscht, dazu noch alle erdenkbaren Waren. Dies war ein Hof, dessen Kräfte nicht dazu dienten, sich bis in alle Ewigkeit unverändert zu erhalten, sondern der offen war für jede neue Idee und lebendigen Gedankenaustausch. Hier waren neue Gedanken keine Bedrohung der Existenz, sondern unabdingbare Notwendigkeit für das Weiterleben. Die Schätze wurden für Experimente auf dem Gebiet der Künste und der Wissenschaften ausgegeben, um Denker und Gelehrte zu unterstützen, wenn sie es brauchten. Der helle Glanz des Strahlenden Reiches kam hier nicht von glimmender Verwesung, sondern vom Licht der Vernunft und des guten Willens.
Das war Elrics Traum, den er bis jetzt noch nie so schlüssig und deutlich gesehen hatte. Das war sein Traum, für den er die Welt bereiste, für den er die ihm zustehende Macht ablehnte, für den er sein Leben riskierte, seinen Verstand, seine Liebe und alles, was er hochschätzte. Denn er war überzeugt, daß ein Leben, das nicht im Trachten nach Wissen und Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt wurde, nicht lebenswert war. Für ihn stand fest, daß Gerechtigkeit nicht durch Rechtssprechung allein, sondern durch Erfahrung erworben wurde. Man mußte selbst Erniedrigung und Hilflosigkeit erlitten haben, zumindest in gewissem Maße, ehe man ihre Wirkung richtig einschätzen konnte. Man mußte Macht aufgeben, wenn man wahre Gerechtigkeit erreichen wollte. Dies war nicht die Logik des Reiches, doch es war die Logik eines Mannes, der diese Welt wahrhaft liebte und sich wünschte, daß ein Zeitalter anbräche, in dem alle Menschen frei sein würden, ihre Neigungen mit Würde
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