Die Festung der Perle
Heilige Mädchen den Bauradim so viel bedeutete.
»Wie du wahrscheinlich schon weißt, hält das Kind treuhänderisch die Geschichte und die Hoffnungen der Bauradim - ihre gesammelte Weisheit. Alles, was sie als wahr und wertvoll ansehen, ist in diesem Mädchen enthalten. Es ist die Verkörperung des Wissens ihres Volkes über eine Zeit, noch ehe die Bauradim sich in der Wüste ansiedelten. Dieses Wissen stellt die Essenz ihrer Geschichte dar. Sollten sie das Mädchen verlieren, glauben sie, daß sie ihre Geschichte wieder ganz von vorn beginnen, hart erarbeitete Lektionen aufs neue erlernen müssen, Erfahrungen nochmals durchleben, Fehler und Irrtümer wiederholen, die durch die Jahrhunderte so schmerzhaft den Lernprozeß ihres Volkes ausmachten. Dieses Mädchen ist für sie die Zeit schlechthin - Bibliothek, Museum, Religion und Kultur - personifiziert in einem einzigen Menschenkind. Kannst du dir jetzt vorstellen, Prinz Elric, was dieser Verlust für die Bauradim bedeutet? Sie ist die Seele des Volkes. Und diese Seele ist gefangen an einem Ort, den nur Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten finden können. Von Befreien ganz zu schweigen.«
Elric betastete den Traumstab, der sein Runenschwert am Gürtel ersetzte. »Auch wenn es nur ein ganz gewöhnliches Kind wäre, dessen Zustand seiner Familie Kummer bereitet, würde ich helfen«, sagte er. »Ich mag nämlich dies Volk und seinen Anführer.«
»Das Schicksal des Mädchens ist mit dem deinen verflochten«, sagte Oone. »Ganz gleich, wie deine Gefühle auch sind, Prinz Elric, du hast kaum eine Wahl.«
Dies hörte Elric nicht gern. »Langsam habe ich den Eindruck, Mylady, daß ihr Traumdiebe viel zu viel wißt über mich, meine Familie, mein Volk und mein Schicksal. Das beunruhigt mich ein wenig. Allerdings muß ich zugeben, daß du mehr als irgendjemand anders, abgesehen von meiner Verlobten, über meine inneren Konflikte weißt. Wie kommst du zu dieser Gabe der Prophezeiung und des Hellsehens?«
Oone antwortete fast gleichgültig. »Es gibt ein Land, in dem alle Traumdiebe gewesen sind. Dort gibt es einen Ort, an dem sich alle Träume überkreuzen, wo sich alles trifft, was uns gemein ist. Wir nennen dies Land den Geburtsort des Knochens, wo die Menschheit zuerst Realität wurde.«
»Das ist eine Legende! Und zwar eine primitive!«
»Für dich mag es Legende sein. Für uns aber Wahrheit. Das wirst auch du noch eines Tages feststellen.«
»Wenn Alnac die Zukunft voraussagen konnte, warum hat er dann nicht gewartet, bis du ihm zu Hilfe kamst?«
»Wir kennen nur selten unser eigenes Geschick, nur die allgemeinen Bewegungen der Gezeiten und der Figuren, weiche in den Geschichten der Welten herausragen. Es stimmt, daß alle Traumdiebe die Zukunft kennen, da sie ihr halbes Leben ohne Zeit verbringen. Für uns gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, nur eine sich verändernde Gegenwart. Wir sind durch diese Ketten nicht gebunden, doch beschweren uns solche anderer Art.«
»Ich habe wohl solche Ideen gelesen, aber sie sagen mir nicht viel.«
»Dir fehlt die Erfahrung, um ihren Sinn zu begreifen.«
»Du hast das Land Gemeinsamer Träume erwähnt. Ist es dasselbe, wie das des Geburtsortes des Knochens?«
»Vielleicht. Darüber sind sich unsere Leute noch nicht ganz einig.«
Durch die Droge für den Augenblick gestärkt, fand Elric an dem Gespräch Gefallen, wenn er darin auch hauptsächlich eine nette geistige Zerstreuung sah. Ohne sein Runenschwert war ihm so leicht ums Herz, wie er es seit den ersten Monaten seines Werbens um Cymoril nicht mehr erlebt hatte. Das waren relativ unbeschwerte Zeiten gewesen, ehe Yyrkoons wachsender Ehrgeiz begonnen hatte, das Leben am melniboneischen Hof zu vergiften.
Elric fiel eine Stelle aus der Geschichte seines eigenen Volkes ein. »Ich habe einmal gelesen, daß die Welt nichts anderes ist als das, was ihre Bewohner als richtig ansehen. So etwas stand in »Die Geschwätzige Sphäre«. Dort hieß es: »Wer kann sagen, welches die innere und welches die äußere Welt ist? Was wir zur Realität machen, ist vielleicht allein entscheidend, und was wir als Träume bezeichnen, ist vielleicht die größere Wahrheit.« Ist diese Philosophie nicht der deinen sehr nahe, Oone?«
»Oh ja, durchaus«, antwortete sie. »Allerdings ist sie etwas verschwommen.«
So ritten sie dahin, beinahe wie zwei Kinder auf dem Weg zu einem Picknick. Gegen Sonnenuntergang gelangten sie zum Bronzezelt. Wieder führte man sie in den Raum, wo
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