Die Festung der Perle
konnte. Ihm wurde plötzlich schwindelig, und er mußte wieder die Balance gewinnen. Oone blickte ihn amüsiert an.
Die Traumdiebin trug dieselbe Kleidung aus Samt und Seide wie zuvor. Leicht spöttisch meinte sie: »Aye, Prinz Elric! Jetzt stehen wir tatsächlich am Rand der Welt! Hier stehen uns mehrere Wege zur Wahl, aber das Zurückgehen gehört nicht dazu.«
»Daran hatte ich auch nicht gedacht, Mylady!« Bei näherem Hinsehen stellte Elric fest, daß die Berge hier viel höher waren und sich alle in dieselbe Richtung neigten, als habe sie ein Orkan niedergepreßt.
»Sie gleichen den Zähnen eines Raubtieres aus der Urzeit«, sagte Oone schaudernd, als habe sie während ihrer langen Karriere tatsächlich schon in einen solchen Rachen geblickt. »Zweifellos führt uns der erste Abschnitt unserer Reise dorthin. Dies ist das Land, das wir Traumdiebe Sadanor nennen, das Land Gemeinsamer Träume.
»Aber trotzdem scheinst du dich hier nicht auszukennen.«
»Die Landschaft wechselt ständig. Wir kennen nur das Wesen des Landes. In Einzelheiten kann es sich verändern. Aber unsere Reisen führen uns regelmäßig durch Gebiete, die gefährlich sind, weil sie uns nicht unbekannt sind, sondern vertraut erscheinen. Das ist die zweite Regel des Traumdiebes.«
»Hüte dich vor Vertrautem.«
»Das hast du gut gelernt.« Oones Lob kam Elric fast übertrieben vor. Aber vielleicht war sie von seinen Qualitäten doch nicht so überzeugt gewesen, wie sie gesagt hatte, und war jetzt froh, sie bestätigt zu sehen. Elric wurde langsam das Maß an Verzweiflung bewußt, das ihrer Mission anhing, doch gleichzeitig ergriff ihn wilde Sorglosigkeit, eine Bereitschaft, sich dem Augenblick hinzugeben, Erfahrungen zu machen, die ihn von den anderen Lords in Melniboné unterschied, die ein Leben führten, das von Tradition und dem Trachten erfüllt wurde, ihre Macht unter allen Umständen zu wahren.
In Elrics Augen funkelte die alte Lebensfreude auf, als er sich lächelnd vor Oone verbeugte. »Dann führe uns, Mylady! Laßt uns in die Berge ziehen!«
Oone war über seine gute Laune befremdet. Sie runzelte die Stirn. Doch dann schritt sie leichtfüßig über den Sand, als sei die Wüste ein ruhiger See. Und der Albino folgte ihr.
Nachdem sie über eine Stunde gegangen waren, ohne daß sich das Licht verändert hatte, sagte Elric: »Ich muß zugeben, daß mich dieser Ort irgendwie beunruhigt. Ich dachte, die Sonne sei verhüllt, aber jetzt ist mir klar geworden, daß überhaupt keine Sonne am Himmel steht.«
»Solche Alltäglichkeiten kommen und gehen im Land Gemeinsamer Träume.«
»Ich würde mich mit meinem Schwert an der Seite sicherer fühlen.«
»Schwerter sind hier leicht zu beschaffen«, sagte sie.
»Auch solche, die Seelen trinken?«
»Vielleicht. Aber hast du das Gefühl, diese spezielle Art der Ernährung jetzt zu brauchen? Verlangt dein Körper nach Lord Ghos Droge?«
Elric mußte zu seiner eigenen Überraschung gestehen, daß er keine Energie verloren hatte. Zum ersten Mal seit er erwachsen war, hatte er das Gefühl, einen Körper wie alle anderen zu haben, der sich normal ohne die Unterstützung aller möglichen künstlichen Mittel ernährte. »Vielleicht wäre ich gut beraten, mich in diesem Land auf Dauer niederzulassen.«
»Aha! Jetzt bist du nahe dran, in eine andere Falle dieses Landes zu treten«, sagte Oone. »Erst kommt der Argwohn, vielleicht auch die Angst. Dann die Entspannung und mit ihr das Gefühl, schon immer hierher gehört zu haben. Man glaubt, daß dies hier die natürliche Heimat ist oder die Heimat der Seele. Alle diese Illusionen erlebt ein Reisender immer wieder, wie du sicher aus eigener Erfahrung weißt. Doch hier muß man diesen Illusionen Widerstand leisten, da sie mehr als nur Gefühle sind. Sie könnten Fallen sein, die ausgelegt wurden, um dich zu fangen und zu zerstören. Sei dankbar, daß du mehr Energie als sonst hast, aber denke an eine andere Regel der Traumdiebe: »Jeder Gewinn hat seinen Preis, den man vor oder nach dem Ereignis bezahlen muß.« Jeder augenscheinliche Vorteil könnte sehr wohl auch einen damit verbundenen Nachteil haben.«
Elric dachte im Stillen, daß er den Preis für ein solches Wohlbefinden gern zahlen würde.
In diesem Augenblick sah er das Blatt.
Langsam schwebte es über seinem Kopf. Ein rotgoldenes Eichenblatt fiel wie an einem ganz normalen Herbsttag und landete vor seinen Füßen im Sand. Ohne sich darüber zu wundern, beugte sich Elric und hob das
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