Die Festung der Perle
Männer und Frauen sich um das Ruhebett in der Mitte geschart hatten, auf dem das kleine Mädchen lag, das ihre ganze Existenz verkörperte.
Elric hatte den Eindruck, daß die Lampen und Fackeln niedriger als bei seinem vorigen Besuch brannten und daß das Kind noch blasser war. Trotzdem zwang er sich zu einem zuversichtlichen Ausdruck, als er das Wort an Raik Na Seem richtete. »Diesmal werden wir nicht versagen und sie im Stich lassen.«
Oone schien Elrics Worte zu billigen. Unter ihren wachsamen Augen wurde Varadias zerbrechlicher Körper vom Bett gehoben und behutsam auf ein großes Kissen gebettet, welches zwischen zwei anderen, ebenso großen Kissen lag. Die Traumdiebin gab Elric ein Zeichen, daß er sich auf die andere Seite des Kindes legen sollte, während sie sich zur Linken Varadias niederließ.
»Nimm ihre Hand, teurer Herrscher«, sagte Oone leicht spöttisch. »Dann lege die Krümmung des Traumstabs über deine Hände, wie du es bei Alnac gesehen hast.«
Elric zitterte ein wenig, doch er gehorchte. Seine Furcht galt nicht ihm selbst, sondern diesem Kind und seinem Volk; auch um Cymoril war er besorgt, die auf ihn in Melniboné wartete, und um den Jungen, der in Quarzhasaat betete, daß er mit dem Juwel zurückkehre, das sein Gefängniswärter haben wollte. Als der Traumstab seine Hand mit der des Mädchens verband, spürte Elric ein Gefühl der Verschmelzung, das nicht unangenehm war, aber wie eine Flamme brannte. Er sah, daß Oone das gleiche tat.
Augenblicklich ergriff eine Macht von Elric Besitz. Er hatte das Gefühl, sein Körper würde immer leichter und leichter und drohte, von der schwächsten Brise davongetragen zu werden. Schleier legten sich vor seine Augen. Nur verschwommen konnte er noch Oone sehen. Sie schien sich zu konzentrieren.
Dann blickte er in das Gesicht des Heiligen Mädchens. Eine Sekunde lang kam es ihm so vor, als würde Varadias Haut noch blasser. Ihre Augen leuchteten so rot wie seine. Ein seltsamer Gedanke flog ihm durch den Kopf: »Wenn ich eine Tochter hätte, würde sie genauso ausssehen …«
Dann war es, als würden seine Knochen schmelzen, sein Fleisch sich auflösen, sein Verstand und seine Seele sich verflüchtigen. Er überließ sich diesen Gefühlen, da es sein mußte, um Oone bei ihrem Vorhaben zu helfen. Jetzt wurde sein Fleisch zu fließendem Wasser, die gefüllten Blutgefäße schwebten wie bunte Luftstreifen dahin, sein Skelett wurde zu geschmolzenem Silber, das sich mit dem des Heiligen Kindes vennengte, zu ihrem wurde, dann darüber hinaus weiterfloß in Höhlen und unterirdische Gänge, in dunkle Orte, wo in einem hohlen Felsen ganze Welten existierten, wo ihn Stimmen riefen, die ihn kannten und ihn entweder beruhigen oder erschrecken wollten oder ihm Wahrheiten sagten, die er nicht hören wollte. Dann wurde es wieder strahlend hell. Er spürte Oone neben sich, die seine Hand nahm und ihn führte. Ihr Körper war beinahe sein Körper. Ihre Stimme klang zuversichtlich, beinahe fröhlich, als würde sie sich auf eine vertraute Gefahr zubewegen. Eine Gefahr, die sie schon oft überstanden hatte. Doch da war auch ein Mißklang in ihrer Stimme, so daß er sicher war, daß Oone noch nie vor einer Gefahr wie dieser gestanden hatte, und daß es durchaus denkbar war, daß keiner von beiden jemals zum Bronzezelt oder der Oase der Silberblume zurückkehren würde.
Dann hörte er Musik, von der er wußte, daß sie die in Musik verwandelte Seele des Heiligen Mädchens war. Es waren süße, traurige, einsame Klänge. Musik, die so unbeschreiblich schön war, daß er geweint hätte, wäre sein Leib nicht zu Luft geworden.
Gleich darauf erblickte er blauen Himmel. Eine rote Wüste erstreckte sich bis zu roten Bergen am Horizont. Ihn beherrschte das seltsame Gefühl, als kehre er heim in ein Land, das er irgendwie in seiner Kindheit verloren und dann vergessen hatte.
Kapitel 2
Im Grenzgebiet am Rande des Herzens
Elric fühlte, wie seine Knochen sich wieder formten und das Fleisch das vertraute Gewicht und Aussehen zurückgewann. Er schaute sich um. Das Land, in dem sie sich befanden, unterschied sich auf den ersten Blick nicht sehr von dem, das sie verlassen hatten. Vor ihnen lag rote Wüste, in der Ferne standen rote Felsen. Die Landschaft kam Elric so bekannt vor, daß er sich umdrehte und erwartete, das Bronzezelt zu sehen. Doch nun gähnte unmittelbar hinter ihm ein tiefer Abgrund, der so breit war, daß er den gegenüberliegenden Rand nicht sehen
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