Die Festung der Perle
Aye, auf ihre Art ist sie das. Sobald du sie betrittst, schließt sie dich schon am Tor fest in die Arme, als seiest du ein lang vermißter Geliebter! Und wenn! Komm!« Auch Oone war jetzt wütend. Sie schlug einen Weg aus Obsidian ein, der sich zur Stadt hinaufschlängelte.
Elric war von der plötzlichen Meinungsänderung überrascht. Er folgte ihr widerspruchslos. Seine eigene schlechte Laune war wie weggeblasen. »Ich unterwerfe mich ganz deiner Entscheidung, teure Dame. Es tut mir leid …«
Sie hörte ihm nicht zu. Die Stadt kam immer näher. Bald schon blickten sie auf zu den Mauern, Kuppeln und Türmen, die so riesig waren, daß man ihre Ausmaße nicht einmal ahnen konnte.
»Dort ist ein Tor«, sagte Oone. »Geh hindurch, und ich sage dir Lebewohl! Ich werde versuchen, das Kind allein zu retten. Du kannst dich deinen verlorenen Überzeugungen hingeben und damit auch alles verlieren, woran du jetzt glaubst.«
Elric betrachtete die Stadtmauer jetzt genauer. Sie war wie aus Jade. Dunkle Gestalten befanden sich in ihrem Inneren. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Verblüfft trat er noch näher. Jetzt sah er lebendige Gesichter, Augen, die nicht starben, Lippen, erstarrt in der Verzerrung des Grauens, der Qual, der Schmerzen. Sie glichen in Bernstein eingeschlossenen Insekten.
»Das ist die unveränderliche Vergangenheit, Prinz Elric«, erklärte Oone. »So enden all jene, die ihre verlorenen Überzeugungen wiederfinden möchten, ohne zuvor die Suche nach neuen zu durchleben. Die Stadt hat noch einen weiteren Namen. Traumdiebe nennen diese Stadt auch die Stadt Erfinderischer Feigheit! Du würdest nicht glauben, mit welchen Verbiegungen der Logik viele hierher gelangten! Was sie dazu zwang, auch jene, die sie liebten, ihr Schicksal teilen zu lassen. Möchtest du wirklich hierbleiben und deinen verlorenen Überzeugungen nachtrauern, Prinz Elric?«
Schaudernd wandte sich der Albino ab. »Aber wenn sie doch sehen konnten, was mit denen geschah, die vor ihnen die Stadt betraten … wie konnten sie dann trotzdem noch eintreten?«
»Sie stellten sich gegen das Augenscheinliche blind. Das ist der große Triumph von rücksichtslosem Bedürfnis über Intelligenz und menschlichen Geist.«
Beschämt ging Elric neben Oone zurück zum Weg unterhalb der Stadt. Er fühlte sich erleichtert, als die Schönheiten der Stadt weit hinter ihm lagen. Sie durchquerten noch mehrere andere große Höhlen mit Städten, doch keine so großartig wie die erste. Obwohl er in einigen Bewegung gesehen hatte, spürte er nicht mehr das Verlangen, sie zu besuchen. Oone hielt diese Städte auch nicht für so gefährlich wie die der Erfinderischen Feigheit.
»Du hast diese Welt das Traumreich genannt«, sagte er. »Das ist wirklich ein treffender Name, da es ein Sammelbecken vieler Träume zu sein scheint, darunter auch nicht weniger Alpträume. Man hat fast das Gefühl, es wurde im Kopfe eines Poeten geboren, so seltsame Dinge sieht man hier.«
»Ich habe dir schon erklärt, daß vieles, was du hier siehst, halb-materialisierte Realitäten aus anderen Welten sind, auch aus deiner und meiner. In wieweit sich all das verwirklicht, wissen wir nicht.«
Sie sprach jetzt wieder freundlich mit ihm, nachdem er die Gefahren erkannt hatte. »Diese Orte wurden durch die Jahrhunderte von unzähligen Generationen von Traumdieben geschaffen, die Dingen Gestalt verliehen, die sonst gestaltlos sind.«
Elric verstand langsam mehr, was Oone ihm bisher erklärt hatte. »Statt eine Karte von dem anzufertigen, was existiert, legt ihr einfach eure eigene Karte obendrauf.«
»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Wir erfinden nichts. Wir beschreiben es nur auf ganz besondere Art. So können wir Durchgangswege durch die Myriaden von Traumreichen anlegen, da diese Reiche nur darin einander entsprechen.«
»In Wirklichkeit könnten tausend verschiedene Länder in jedem Reich liegen, oder?«
»So könnte man sagen. Oder auch eine unendliche Menge Länder. Oder eine unendliche Menge Aspekte. Wege sind so angelegt, daß der Reisende sich ohne Kompaß nicht zu weit von ihrem Endpunkt entfernen kann.« Sie lachte fröhlich. »Die fantasievollen Namen, die wir diesen Orten geben, entspringen nicht irgendeinem poetischen Impuls, auch nicht einer Laune, sondern ausschließlich purer Notwendigkeit. Unser Überleben hängt von diesen präzisen Beschreibungen ab.«
»Deine Worte klingen sehr tiefgründig. Mein Überleben hing allerdings oft von einer guten, scharfen Klinge
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