Die Festung
schließlich als Neugeborenes zu sterben, unwissend und rein wie ein
Embryo. Was für ein herrlicher und freier Tod wäre das! Aber da es nicht so
sein könnte, läge die Rettung einzig in Liebe und Menschlichkeit. So lebe und
sterbe man leichter. Es berühre ihn nicht, was nach seinem Tod geschehe, ob
seine Seele zusammen mit dem Körper verwese oder sich zurückziehe, um tatenlos
auszuruhen, oder ob sie, angefault und beschmutzt, einem neugeborenen Kind
geschenkt werde, was eine große Ungerechtigkeit gegenüber diesem reinen
Geschöpf wäre. Aber was ihn berühre und woran ihm sehr liege: daß nach seinem
Tod sein unbefleckter Name und eine schöne Erinnerung unter den Menschen oder
wenigstens bei einem Menschen weiterlebe. Das würde sein kurzes Dasein auf
Erden verlängern. Dieser Wunsch verpflichte den Menschen auch zu Lebzeiten, das
Böse zu unterlassen und manchmal sogar Gutes zu tun. Der Gedanke an die unsterbliche
Seele verpflichte zu nichts, denn das sei das Amt höherer Gewalt, ganz gleich,
wie man als Mensch lebe und handele, so daß auch die Seele eines verstockten
Verbrechers in den Körper eines arglosen Neugeborenen einziehen könne. Der
Gedanke an Menschlichkeit sei gerechter und barmherziger. Daß das Leben kurz
sei, störe ihn nicht, wenn es nur sauber war. Was nützte ein längeres Leben?
Was die Unsterblichkeit? Das sei das größte Unglück, das Menschen treffen
könne. Ahasver sei der Unglücklichste unter allen Menschen. Er entsetze sich
bei dem Gedanken an ein ewiges Leben, das nicht schließlich Ruhe finde, das
ohne Angst sei, aber auch ohne Freude, ohne Liebe, die in einem solchen
Überdauern ohne Ende sinnlos wäre. Gerade die Angst vor dem Tod verschöne alle
Dinge, die wir erlebten. Man müsse in diesem kurzen Augenblick zwischen zwei
Geheimnissen alles auskosten, zur Freude eines reinen Lebens und der Liebe zu
den Menschen gelangen.
»Aber wo sind diese Menschen?«
fragte Šehaga heftig. »Die, unter denen wir leben, sind schlimmer als Wölfe.
Sie werden dich zerreißen, wenn du nur einen falschen Schritt tust.«
Mula
Ibrahim schüttelte den Kopf.
»Nicht alle sind so. Die Bösen haben
die Überhand gewonnen, man sieht und spürt sie allenthalben, deshalb glauben
wir, daß alle so sind. Aber das trifft nicht zu.«
Dann schaute er auf die Straße.
Seine beiden Gehilfen gingen langsam vor dem Laden auf und ab, Kopf und
Schultern schneebeladen.
Šehagas wegen hatte er sie
fortgeschickt, meinetwegen hatte er es nicht tun wollen. Alles, was er tat,
stand im Gegensatz zu dem, was er gesagt
hatte. Warum hatte er dann gesprochen? Er und Šehaga? Weil sie schätzten, was
ihnen fehlte? Weil sie sich oder andere betrogen? Oder waren sie im Zwiespalt
zwischen dem, was sie wollten, und dem, was sie mußten?
So wie er redete, wünschte Mula
Ibrahim sicher auch zu leben, aber dann hatte sich seinem Wunsch alles entgegengestellt,
und nur die leere Erinnerung an das einstige Ich war geblieben, mit guten Vorsätzen,
gekleidet in Worte, die niemals Taten werden würden. Doch auch dieser Rest war schön, eine schöne Ruine. Ich wußte nicht, wessen
Gedanken er vorgetragen hatte, aber sie schienen mir wertvoller als alles, was
ich je gehört hatte, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wie sich Feigheit
und Nächstenliebe vertrugen. Mula Ibrahim entschuldigte sich und ging hinaus,
um mit seinen Gehilfen zu sprechen, damit sie nicht so bald in den Laden
zurückkamen.
Šehaga sah
ihm versonnen nach.
»Er hat nicht recht. Er ist
gescheit, aber er hat nicht recht.«
»Mir
gefällt sehr, was er gesagt hat.«
»Weil du keine Erfahrung hast. Wenn
du soviel vom Leben und den Menschen wüßtest wie ich, würdest du nicht so
sprechen. Warum lebt er nicht nach seinen Worten?«
»Wer weiß, was ihn zerbrochen hat.«
»Du hast
für jeden eine Entschuldigung.«
»Wie seid ihr auf dieses
ungewöhnliche Thema gekommen?«
»Ich habe ihn deinetwegen
aufgesucht, damit er dich wieder einstellt. Dann habe ich es vergessen. Ich
weiß nicht, warum ich dieses Gespräch angefangen habe. Zufällig. Vielleicht
auch nicht. Zuweilen hat man das Bedürfnis, über das zu sprechen, was man nicht
kennt.«
Er war meinetwegen gekommen, aber in
ihrem Gespräch hatten sie sich ziemlich weit von mir entfernt. Es freute mich,
daß er an mich gedacht hatte, doch lieber wäre mir gewesen, er hätte mich nicht
vergessen.
»Ist es nicht vernünftiger, sich um
Dinge zu kümmern, die man kennt?«
Er schüttelte den harten
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