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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Ibrahim wie in tiefem Schlaf
den Kopf gesenkt. Als er jedoch zu sprechen begann, merkte ich, daß er
aufmerksam zugehört hatte. Doch auch er überraschte mich. Nach allem, was ich
wußte, sah es so aus, als hätten sie einander ihre Auffassungen geliehen, als
gebrauchte Mula Ibrahim Worte, die ich von Šehaga hatte erwarten können, und
Šehaga solche, die nach meiner Meinung nur von Mula Ibrahim stammen konnten.
Der eine, Mächtige, sprach von menschlicher Ohnmacht; der andere, Schwache, von
der Pflicht des Menschen, Mensch zu bleiben! Was war das? Der eine tröstete
sich in seiner Not, indem er einen höheren Sinn dafür suchte, den er nicht
begreifen konnte, der andere verleugnete seine Schwäche, indem er männlichen Mut
pries, den er nie aufbringen würde.
    Diese Selbstverleugnung der beiden
betrübte mich.
    Mula Ibrahim stimmte Šehaga darin
zu, daß die Menschen nach Macht strebten, und daran sei nichts Häßliches. Wenn
es das nicht gäbe, sähe es auf der Welt noch viel schlimmer aus. Die Demütigen,
Unterdrückten, Schicksalsergebenen seien jedermanns Sklaven. Nicht jeder Wunsch
nach Macht gleiche dem anderen. Da gäbe es einmal das Bedürfnis, Menschen zu
beherrschen, zu demütigen, zu ängstigen, zu Taten zu zwingen, die sie freiwillig
nie tun würden; das sei das Verlangen nach Schweigen, nach Gehorsam oder Widerstand,
basierend auf dem Recht, das der Stärkere ausübte. Solch ein Machtstreben sei
unmoralisch, es erniedrige den Gewalttäter und den Unterdrückten. Wehe dem, der
dies am eigenen Leib gespürt habe. (Sprach er von sich und mir, weil er durch
fremde Gewalt erniedrigt worden war und mir in seiner Erniedrigung Schaden
zugefügt hatte? Er jammerte, er verteidigte sich, er klagte an!) Etwas anderes
sei das Streben nach Macht, die Hilfe für die Menschen darstelle, die durch Liebe besiege und Verständnis
fördere. Das sei eine große Macht, die alle Menschen erlernen könnten und die
das Böse vereiteln würde. Mit solcher Macht war der Mensch kein bedeutungsloses
Sandkorn. Er könne nichts dazu sagen, ob es ein höheres Wesen gebe, vielleicht
existierte es wirklich, aber er sei sicher, daß unsere menschlichen Belange
niemand ordnen könne, wenn wir es nicht selbst täten. Von einer übernatürlichen
Kraft Rettung und Trost zu erwarten, was die Menschen seit Jahrtausenden
vergebens täten, bedeute im Grunde, die eigene Hoffnungslosigkeit einzugestehen
und nichts zu unternehmen, damit es unter den Menschen besser werde. Die Welt
war vor den Menschen dagewesen, sie würde auch nach ihnen fortbestehen. Aber
was kümmerte uns das? Darum sollten sich die Wesen sorgen, die dann leben
würden. Wir könnten unsere Sorge niemandem überlassen, wir müßten die Macht der
Liebe lernen, damit aus dem Leben keine Folterkammer werde. Was die Seele
beträfe, so hätte auch er darüber nachgedacht, denn es sei schwer, der Angst
und Unruhe wegen des kurzen Lebens und des Vergehens im Dunkel der Ewigkeit zu
entfliehen. Und beim Nachdenken sei es ihm so vorgekommen, als wäre die
bestehende Ordnung menschlichen Wachsens und Werdens nicht gerecht. Der Mensch
werde als unschuldiges Kind geboren, das nichts von sich, der Welt, der Sünde,
der Erniedrigung, dem Ehrgeiz wisse, für das alles neu und unerhört sei, denn
es besitze noch kein geistiges Leben. Mit fortschreitendem Alter sammele der
Mensch Erfahrungen, sehr lange, sehr mühsam, und kaum sei er erwachsen, da
tauche der Gedanke an den Tod auf. Er sterbe schwach, ermattet, verzweifelt,
bedrückt von dem Gedanken an Schuld, die er auf sich geladen hätte, unzufrieden
mit dem, was er im Leben getan hätte, denn das meiste hätte er nicht gewollt;
unzufrieden mit dem, was er unterlassen hätte, weil er es nur gewollt, aber
nicht gewagt hätte, von Sinnen über die Sinnlosigkeit hinter sich und das
undurchschaubare Geheimnis vor sich. Zu Tode erschrocken, ohne Halt, den ihm
einzig die Überzeugung geben könnte, daß er nur nach dem Entschluß seines
reinen Gewissens gelebt hätte, dächte er verzweifelt an die ewige Seele, an ein
Überdauern ohne Ende, an die Möglichkeit, irgendwo und irgendwann dennoch einen Sinn zu finden. So endete
er unrühmlich, vollkommen geschlagen. Wieviel besser wäre es, als Greis auf
die Welt zu kommen, langsam das mittlere Alter zu erreichen, allmählich die
Urangst vor dem Tod zu vergessen, dann ein freier Jüngling zu werden, der
leichtsinnig genug sei, an nichts allzu ernsthaft zu denken, dann ein sorgloses
Kind, und

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