Die Festung
schmalen
Kopf: An dem, was er kenne, habe er schon übergenug. Aber seine kalten grauen
Augen waren nicht so entschlossen wie seine Bewegung. Ihr Blick galt seinem
unheilbaren Schmerz, er löste sich nicht leicht von seiner Erfahrung und von
der Erde. Warum hatte er dann so gesprochen? Wollte er seine Ohnmacht, die
andere Menschen ihm nicht verziehen hätten, durch einen Willen rechtfertigen,
der stärker als der menschliche war? Aber wenn er sich mit der menschlichen
Grausamkeit nicht abzufinden vermochte, wie konnte er eine andere, höhere
Grausamkeit anerkennen? Nur weil sie unfaßbar war? Er kam mir vor wie ein
verlorener Dulder, ein Schwerkranker, der den Glauben an die Ärzte aufgegeben
hatte und Rettung in der Wahrsagerei suchte. Sein Pech war, daß er einen zu
gesunden Verstand hatte, um an Wunder zu glauben. Er wollte auch die Arznei
nicht annehmen, von der Mula Ibrahim gesprochen hatte: sich mit den Menschen
auszusöhnen, die Liebe als Gesetz anzuerkennen und nicht den Haß. Für ihn war
es leichter, Gott die Schuld zu geben als den Menschen, aber sein starkes Herz
würde den Haß auf Gott und auf die Menschen nähren und den Schmerz um den Sohn
und den Zorn auf ein unbegreifliches Geschick.
Ich wußte nicht, ob er erwartete,
daß ich ihm etwas sagte, dazu war ich ohnehin viel zu verwirrt. Immer wieder
entdeckte ich, daß ich die Menschen nicht enträtseln konnte. Was sie sagten,
war nicht das, was sie taten, war es das, was sie dachten? Vielleicht wußten sie
es selbst nicht. Und was konnte ich ihm sagen, was er nicht schon wußte, womit
er sich nicht schon in vielen schlaflosen Nächten herumge schlagen hatte? Auch
seine krampfhaft gefalteten Hände geboten mir Schweigen. Er dachte nicht nach,
er quälte sich.
Ich bedauerte ihn und begriff nicht,
warum seine Trauer so lang andauerte. Hatte die Zeit sie kein bißchen
gemildert? Oder hatte er seinem Sohn zu Lebzeiten ein Leid angetan, das er nach
dessen Tod nicht mehr sühnen konnte? Wenn es so war, dann hatte er die Hölle
auf Erden erfahren.
Und während ich schweigend
überlegte, ob es am unabwendbaren Unglück oder an unverwirklichtem Edelmut
lag, daß die Menschen ständig danach fragten, wie man leben sollte, betrat den
Laden ein Mensch, der lebte, ohne darüber nachzudenken: Osman Vuk. Er kam mit
Mula Ibrahim, klopfte sich lachend mit der Mütze den Schnee von den Schultern.
»Es schneit!« sagte er fröhlich, als
wüßten wir das nicht längst und als sei dies schöner und wichtiger als alles
auf der Welt. Und er lächelte Šehaga zu, als wäre er glücklich, die freudige
Botschaft loszuwerden, die er mitgebracht hatte.
»Fast wäre ich nicht daraufgekommen,
dich hier zu suchen. Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Sag es.«
»Lieber unter vier Augen.«
Šehaga blickte von ihm zu uns,
wollte großmütig zeigen, daß er vor uns keine Geheimnisse hatte, aber dieser
edle Gedanke war kurz. Er war wieder ganz von dieser Welt.
»Entschuldigt«, sagte er lächelnd
und ging mit Osman hinaus.
Ich stand
auf, ihre Geheimnisse gingen mich nichts an, unser Gespräch war beendet, es war
Zeit für mich, nach Hause zu gehen und auf Tijana zu warten, wenn sie nicht
schon gekommen war.
Aber Šehaga öffnete die Tür und rief
mich hinaus.
»Das sollst du hören! Sag es ihm,
Osman.«
Osman zeigte sich nicht überrascht,
sie hatten sich wohl so geeinigt, und erzählte, daß soeben der Schankwirt Zajko bei ihm gewesen sei. Er habe
berichtet, daß Avdija, der Sohn von Omer Skakavac, angetrunken die Schenke
aufgesucht, dort weitergetrunken und geprahlt habe, er wisse, wer Ramiz aus der
Festung entführt habe. Zum Glück sei nur der Lastträger Mujo Dušica in der Schenke
gewesen, wo er seit dem Morgen gezecht und nicht mehr gewußt habe, was er
selbst redete, geschweige denn, was andere sagten. Zajko habe Avdija zu trinken
gegeben, bis er eingeschlafen sei. Mujo Dušica sei er ohne Widerstand
losgeworden, weil der sich einbildete, seine Frau jage ihn aus dem Haus. Jetzt
passe der Knecht auf Avdija auf und lasse niemanden in die Schenke, während Zajko
zu Osman geeilt sei, um ihm die Nachricht zu überbringen.
»Also«, sagte Šehaga ungerührt,
»wenn der Junge wirklich etwas weiß, könnten wir Schwierigkeiten bekommen. Man
müßte dem alten Omer Skakavac Bescheid geben, aber wir wissen nicht, wen wir zu
ihm schicken sollen. Wenn Osman ginge, würde es auffallen, Zajko kann die
Schenke nicht verlassen, und es geht ihn auch nichts an, außerdem wäre es mehr
als
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