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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Šehaga
Sočo eingesperrt, weil er auf dich gehört und deinen Freund gerettet hat.
Und die Skakavac, alle drei. Und, Gott behüte, auch du, denn unter der Folter
weiß man manchmal nicht, was man redet und wessen Namen man erwähnt. Wie viele
Tote hätte es geben können? Ziemlich
viele, bei Gott, denn wenn das Unheil einmal ins Rollen kommt, ist es nicht so
leicht aufzuhalten. Und den Anstoß kann
eine Kleinigkeit geben, wenn man beispielsweise den falschen Mann für eine
nebensächliche Aufgabe wählt. So aber ist nur einer umgekommen, und niemand ist schuld daran, niemand! Es ist
genauso, als wäre er ertrunken, er ist ins Tiefe gewatet und fortgerissen
worden. Hast du nun begriffen?«
    Ich
schwieg. Die rauhe Wirklichkeit kann sehr überzeugend sein.
    »Das ist
meine Meinung«, sagte er, schon wieder lachend. »Und du kannst dir dein
Kastratengeschwätz sonstwohin stecken. Gehen wir weiter? Sei bei
der Totenfeier weder traurig noch fröhlich, sondern mach ein ernstes Gesicht.
Denk nicht mehr an den Jungen, es war ihm so bestimmt, und recht besehen ist es
besser so als anders. Für ihn schlimmer, für uns besser.«
    »Wie soll ich es fertigbringen,
nicht an ihn zu denken?«
    »Ganz einfach. Denk an deine schöne Frau. Sie ist
wirklich schön.«
    »Fängst du schon wieder an!«
    »Was denn? Wir unterhalten uns doch
nur. Aber aufrichtig gesagt, wenn wir nicht Freunde wären, ich würde sie dir
wegnehmen.«
    Ich verzog das Gesicht, als hätte er
mir einen Messerstich versetzt.
    »Und ich sage dir ein für allemal:
Solche Gespräche mag ich nicht.«
    »Ich auch nicht.« Osman lachte
unterdrückt, denn der Hof der Moschee begann sich mit Menschen zu füllen. »Ich
will dich nur auf andere Gedanken bringen, damit du den Jungen vergißt. Denk
lieber an die Lebenden als an die Toten.«
    Man konnte ihm nichts anhaben, er
verstand es, im selben Augenblick zu schlagen und zu streicheln, zu erzürnen
und zu versöhnen. Er war ein heiterer Satan, ohne Herz und mit scharfem
Verstand, präzis und kalt wie eine Uhr. Und genauso seelenlos.
    Vor dem Hof
der Moschee stand der Fähnrich Muharem und bettelte stumm, ohne die Hand
auszustrecken. Ich tastete meine Taschen ab, obwohl ich wußte,
daß ich nichts hatte, und bat Osman, mir etwas Kleingeld zu leihen. Er zog,
ohne abzuzählen, eine ganze Handvoll hervor.
    »Gib es dem Fähnrich.«
    Er reichte es ihm hin, und Muharem
nahm es ohne Dank.
    »Dieser alte Dachs!»sagte Osman
fröhlich, während wir eintraten.
    Nahm er sich irgend etwas zu Herzen?
War er selbst für dieses Unrecht unempfindlich?
    »Von wem sprichst du?«
    »Von dem Fähnrich Muharem.«
    »Tut dir der Mann in seiner Not
nicht leid? Er ist nicht schuld daran.«
    »Stimmt, sie haben den alten Helden
auf die Straße gesetzt.«
    »Ist das vielleicht zum Lachen?«
    »Und gezwungen, auf seine alten Tage
zu betteln. Damit er nicht verhungert.«
    »Ist es denn nicht so?«
    »Nein, Bruder, so ist es nicht.
Damit du dich nicht wunderst: Von Šehaga bekommt er jeden Monat mehr, als er
braucht.«
    Das überraschte mich.
    »Ich habe gehört, daß er aus Trotz
bettelt, weil er nicht bekommen hat, was er forderte. Dies habe ich nicht gewußt.«
    »Ganz richtig, aus Trotz. Und wenn
er es bekommen hätte, wäre er genau wie die anderen. Und nun sei still, es hat
angefangen.«
    Wir stellten uns an das Ende der
Reihe, die sich hinter dem Hodscha und dem Toten auf dem steinernen Podest vor
der Moschee gebildet hatte. Während der Hodscha Gebete sprach, dachte ich über
Osman nach.
    War die Welt, wie er sie sah,
einfacher oder komplizierter als die Welt, wie ich sie sah? Offenbar war sie
komplizierter, denn er wußte, daß jedes Ding
Vorder- und Kehrseite, Schein und Wesen, Rinde und Mark hatte. Für mich war die
Bettelei des Fähnrichs sein Unglück und unsere Schande, für Osman war sie
greisenhafte Laune und kleinliches Rachegelüst. Ich betrachtete alles als
Verhängnis und Mißverständnis unter den Menschen, und dafür gab es kein
Heilmittel. Osman fand für alles menschliche Rahmen und menschliche Maße, ohne
dem Mißgeschick oder der Gewalt den Vorrang zu geben: Das Mißgeschick war das,
was man auf sich nehmen mußte, die Gewalt das, was man sich erlauben konnte.
Bei ihm vermischten sich ja und nein derart, daß man sie kaum
unterscheiden konnte, Böses und Gutes waren eng verwandt und gingen oft Arm in
Arm, Strafe und Schuld waren Macht und Ohnmacht, das Leben war ein
interessantes Schlachtfeld, auf dem die einen fielen und die

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