Die Festung
er
munter. Er wollte niemandem mit seinen Sorgen lästig fallen.
»Ich fühle mich nicht wohl.«
»Was tut dir weh?«
»Alles.«
»Wenn alles weh tut, ist es nicht
gefährlich. Da, ich habe Hasenschmer mitgebracht. Damit reiben wir den Arm ein.«
Er untersuchte den Arm, die Beine,
den Kopf, das Kreuz und richtete sich auf.
»Du willst dich ordentlich ausruhen?
Gut. Den Hasenschmer nehme ich wieder mit, du brauchst ihn nicht. Alles
verheilt, Gott sei Dank. Du hast gesundes Blut.«
»Wenn ich nur ans Aufstehen denke,
wird mir übel.«
»Weil du dich nicht bewegst. Und
weil du Angst hast, daß alle dich anstarren, wenn du hinausgehst. Dem ist aber
nicht so, Mann. Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen zu tun. Anfangs habe ich
mir das auch eingebildet. Als ich in die Stadt zurückkam, haben mich die Leute
angesehen wie ein totes Kalb, einer sagte: Ich habe dich ein paar Tage nicht
gesehen. Andere nicht einmal das. Und dabei war ich zehn Jahre fort gewesen!
Ein bißchen hat es mir leid getan: War es wirklich so, als wäre nur ein Hund
die Straße entlanggelaufen? Aber dann habe ich innerlich gelacht: Hätte denn
ich mich an einen anderen erinnert? Und wozu? Besser, ein jeder geht seiner
eigenen Wege.«
Hätte ein anderer so geredet, so
hätte es ernst und traurig geklungen, bei ihm war es eher possenhaft. Wegen
seiner lächerlichen Grimassen und wegen all dessen, was ich über ihn wußte.
Irgendwie entwertete und verdarb er alles, seine Worte, seine Taten, sich
selbst. Ich lachte über das, was er sagte, aber jemand, der anders gewesen wäre
als Mahmut, wäre aus seiner bitteren Erfahrung zu würdevoller Weisheit
herangereift.
Und als er gegangen war, stand die
beschädigte Tasse nicht mehr auf der Truhe.
Tijana lachte, obwohl ihr nicht
danach zumute war. Sie sah bestürzt aus.
»Wenn wir ihn husten hören,
schließen wir die Tür ab und verhalten uns still. Dieser Hamster läßt alles
mitgehen«, sagte ich unbekümmert.
Aber wir machten das nicht, kein
einziges Mal, wir ließen ihn ein, er nahm gewisse Kleinigkeiten mit, andere versteckten
wir vor ihm, und wir gewöhnten uns an dieses seltsame Wechselspiel von Vorsicht
und Vertrauen, so daß weder wir böse waren, weil er stahl, noch er, weil wir
unser Eigentum hüteten. Allerdings verblüffte er uns, als er Tijana eine vergoldete
Tasse und fast neue Pantoffeln zum Geschenk machte. Gott allein wußte, wo er
das stibitzt hatte.
»Das schickt dir meine Frau«, sagte
er einfach. »Sie möchte dich gern sehen.«
Er überredete mich nicht mehr
aufzustehen. Er ließ jeden das tun, was er mochte.
Manchmal jedoch stand ich auf,
machte ein paar Schritte im Zimmer und legte mich wieder hin. Ich war wirklich schwach.
Nach zehn Tagen sagte Tijana: »Nun,
ist es nicht Zeit für dich, auszugehen?«
Mula Ibrahim hatte uns nicht
besucht, sicherlich hatte er viel Arbeit. Die Orangen aßen wir, sie waren
halbverfault.
»Ich bin noch krank«, begehrte ich
auf.
Aber sie entgegnete unerwartet fest
auf ihre weibliche Art, die weder verletzte noch Widerspruch duldete: »Du bist
nicht krank, du hütest nur deinen verletzten Stolz. Aber in dieser Hitze kannst
du wirklich krank werden. Geh ein bißchen unter Menschen, vertritt dir die
Beine, unterhalte dich.«
Ich zog mich wütend an und ging
beleidigt fort, als wäre ich aus dem Krankenbett verjagt worden. Wie unbequem
sie sein konnte. Sie warf mir verletzten Stolz vor. Sicherlich dachte sie, daß
ich vor diesem Ausgang Angst hatte.
Leider hatte sie recht. Deshalb war
ich ihr auch böse.
Die Frühlingsluft voller Säfte
betäubte mich, mir schwindelte, als wäre ich betrunken, wie in jener häßlichen
Nacht. Auch die Füße konnte ich nur schwer heben, mir war zu warm in den
Winterschuhen, und ich war des Gehens entwöhnt.
Ich bin eben krank, ich werde in der
Gasse umfallen, man wird mich nach Hause bringen, ins Bett, ich werde mit geschlossenen
Augen daliegen, blaß, erschöpft, ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne ein Wort der
Klage.
Aber ich fiel nicht um, wurde immer
sicherer auf den Beinen, atmete immer freier. Der Tag war schön, ich hatte
nicht gewußt, daß der Frühling schon so weit war. Die Menschen beachteten mich
nicht, wunderten sich nicht, fragten nicht.
Warum hatte mich Tijana nicht früher
hinausgeschickt?
Ein Taubenschwarm hatte von der
ganzen Breite der Gasse Besitz ergriffen, sie störten sich nicht an den Menschen,
hatten keine Angst, flüchteten nicht, ich sah mich vor, um nicht auf diese
gefiederten
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