Die Festung
fürchten. In Wirklichkeit waren die
Menschen aus Angst grausam. Der Angriff war Verteidigung, die von der Vorsicht
geboten war, und so gab es kein Mittel gegen die Grausamkeit, denn es gab kein
Mittel gegen die Unsicherheit der Menschen.
Und wie sah es mit mir aus? Ich
konnte nicht angreifen, konnte mich nicht einmal verteidigen. Ich war eine
Trommel, die geschlagen wurde, die aber stumm blieb und niemanden herbeirief.
Ein Held, der sich vor der Einsamkeit fürchtet
Wenn mich die vergebliche Erwartung
ermüdete, daß ein Wunder die Mauern um mich einstürzen ließ, wenn ich der ziellosen Wanderungen durch die
Stadt überdrüssig wurde, wenn mich die Gespräche mit den Menschen langweilten,
weil ich nichts von Geschäften verstand, oder quälten, weil ich Angst bekam,
daß ich eine Ruine werden könnte wie die meisten, denen ich begegnete – wenn es
so in mir aussah, ging ich in die alte Bibliothek, die nach Papier, Staub und
Tinte roch, und verweilte stundenlang bei den Büchern und dem Bibliothekar Seid
Mehmed.
Meist waren wir allein. Hin und
wieder kam ein älterer Medresseschüler oder einer der wenigen Bücherfreunde, dann wurde wieder alles still, und
die alten Handschriften auf den Regalen schwiegen wie eh und je, ruhig, weise,
jung schon seit Jahrhunderten.
Hier war ich still, stiller als
gewöhnlich. Ich spürte, daß die Zeit nicht nur vorüberfloß, sondern auch
gegenwärtig war. Die sichtbare Spur von jemandes
Hand, die einst holprige Zeilen niedergeschrieben hatte, trotzte dem Tod, und
das Wort und sein Sinn lebten ewig, wie eine Quelle, die nicht versiegte, wie
ein Licht, das nicht erlosch.
Also war
nicht alles Menschliche zum Tode verurteilt.
Ich gewöhnte mich so an Seid Mehmed,
daß ich stundenlang mit ihm schweigen konnte. Er schwieg immer, ob allein oder in
Gesellschaft. Anfangs kam es mir seltsam vor, stumm neben einem lebenden Menschen in der
leeren Bibliothek zu sitzen, und ich versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, über irgend etwas, über alles, ich
wollte herausfinden, wer er war, was ihn berührte. Ich fand heraus, daß ihn gar
nichts berührte, nicht der Mensch, nicht Gott, nicht das Leben, nicht der Tod,
aber er besaß ein riesiges Wissen über viele Dinge.
Bisweilen erschreckte er mich fast
durch seine Kenntnis des Lebens, der Philosophie, der Literatur oder durch eine
kluge Bemerkung, wie ich sie von keinem
anderen gehört hatte. Leider sprach er immer nur kurz, als leuchte ein
Blitzstrahl in dunkler Nacht auf. Denn vorher
und nachher war Seid Mehmed völlig abwesend, in einer fernen Welt, zu der es
keine Brücke gab.
Solange ich ihn nicht kannte,
glaubte ich ihn durch Worte aufwecken und aufrütteln zu können. Später ließ ich
davon ab.
Er saß reglos, starrte die Wand, den
Boden, einen Sonnenstrahl an und schwamm, ohne etwas zu sehen, in der leisen
Strömung seiner rätselhaften Träume, aus denen ihn meine Rede nicht auf die
Erde zurückholen konnte.
Wenn sein abwesendes, aber
glückliches, sanftes Lächeln allmählich schwand und sein Gesicht hart und
straff wurde, unruhig, als hätte er Angst, erhob er sich mühsam und ging mit
unsicheren Schritten in den Nebenraum. Er blieb nur so lange, wie er brauchte,
um sich mit Opium zu betäuben, dann kehrte er belebt zurück und verfiel
sogleich wieder in seine Träumereien.
So war der gebildetste Mann in der
Stadt zugleich auch der unglücklichste. Ein riesiger Schatz lag ungenutzt in
ihm, und das war schlimmer, als hätte er nichts gewußt. Oder er war der
Glücklichste, denn er brauchte nichts, kümmerte sich um nichts, und es war ihm
gleichgültig, ob er etwas wußte oder nicht. Dennoch fragte ich mich, ob seine
Traumbilder lebendiger gewesen wären, wenn er weniger gewußt hätte. Oder ob
sein Wissen sie veredelte. Ich fragte mich nur so, ohne Grund und
Notwendigkeit, denn selbst wenn es eine Antwort gegeben hätte, sie wäre ohne
Bedeutung gewesen. Sicher eignete sich niemand Kenntnis und Wissen an, nur um
seine Opiumträume zu bereichern.
Er war von Geheimnissen umgeben.
Völlig in sich eingemauert wie ein Steingrab. Man konnte nicht hineinschauen,
es gab nichts von sich preis.
Als ich noch nichts von seinen
Ausflügen in das bunte Nirwana wußte, geschah es einmal, daß ich ihm eines
meiner Gedichte hersagte; aus irgendeinem Grund glaubte ich, daß er es
verstehen würde. Ich entschloß mich plötzlich, als ich den Eindruck hatte, daß
er ausnahmsweise zugänglich war.
Es war ein Gedicht über
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