Die Festung
geboren werden!
Und ich fange an zu rechnen, wie viele Einwohner wir vor einem Jahr hatten, wie
viele es in einem oder zwei Jahren sein werden. Und ich denke, bis ich ein
Knäuel im Kopf habe, das ich nicht entwirren kann, ich stehe auf, zünde die
Kerze an und fange an, die Zahlen aufzuschreiben. Und weißt du, was
herausgekommen ist: In unserer Stadt gibt es ungefähr sechstausend Familien,
jede etwa mit drei Kindern. Kinder nehmen in drei Jahren drei Okka an Gewicht
zu. Achtzehntausend Kinder mal drei, das sind vierundfünfzigtausend Okka
Menschenfleisch.«
Diese Masse Menschenfleisch, die da
in einem Jahr heranwuchs, bestürzte mich.
Ich lachte.
»Mein Gott, du mißt sie nach Gewicht
wie die Lämmer!«
»Es sind keine Lämmer, sondern
Kinder, das ist es ja! Und jedes Jahr wachsen sie weiter, und jedes Jahr kommen
neue. Die Ernte kann verderben, aber das Menschengeschlecht stirbt nicht aus. Jetzt
sind es achtzehntausend, verstehst du?«
»Das ja, aber ich weiß nicht, worauf
du hinauswillst.« Er schüttelte ob meiner Begriffsstutzigkeit unwillig den
Kopf.
»Hör zu, was mir eingefallen ist: Es
gibt mehr Kinder als Erwachsene. Und Eltern haben gewöhnlich ein Herz für ihre
Kinder. Nun paß auf: Wenn jemand Geld hätte und etwas kaufen würde, was Kinder
gern haben, und das wiederverkaufte, der könnte schön verdienen.«
»Wenn, wenn! Laß diese
Hirngespinste, ich bitte dich.«
»Das sind keine Hirngespinste. Bald
ist in Višegrad Jahrmarkt, da könnte man ein paar Ladungen Trillerpfeifen
kaufen. Das Stück für eine Para. Wenn man dreitausend nähme, na gut, sagen wir
zweitausend, das wären zweitausend Para Reinverdienst. Wer würde nicht zwei
Para für sein Kind ausgeben?«
»Es gibt Wichtigeres als
Trillerpfeifen für Kinder.«
»Wenn sie sich Wichtigeres nicht leisten können,
werden die Leute Trillerpfeifen kaufen.«
Würde er sein Leben lang an so etwas
denken? Das mit den Trillerpfeifen konnte nur ihm einfallen. Er war gescheit
und dumm, traurig und lustig, alles zugleich.
»Deine Ideen sind einmalig. Wozu
hast du dir jetzt Trillerpfeifen in den Kopf gesetzt?«
»Nicht die Pfeifen, sondern bares
Geld. Du verkaufst und streichst ein.«
»Und woher nimmst du das Geld?«
»Das Geld? Das ist es ja eben.«
Er wurde verlegen und strich sich
die Regentropfen von der blau angelaufenen Nase.
»Du hältst es wohl mit den
Zigeunern! Wenn wir soviel Mehl hätten, wie uns Butter fehlt, könnten wir einen
guten Maisbrei kochen.«
»Ganz so ist es nicht. Beides könnte
sich finden, das Mehl und die Butter.«
»Wie denn?«
»Du hast es.«
»Ich? Ich gebe dir alles, was ich
besitze.«
»Dann ist alles in Ordnung. Ich gehe
nach Višegrad und besorge die Trillerpfeifen.«
»Aber ich habe nichts, Mann Gottes!
Woher auch?«
»Du hast das Haus deines Vaters.«
Das war es also! Er fand keine Ruhe,
solange er mir nicht das Letzte abgenommen hatte. Es war wie eine Krankheit.
Ich schwieg, und er schürte das Feuer.
»Was meinst du? Es steht doch nur
nutzlos herum.«
Ich meinte nichts, ich dachte
nichts. Es stand wirklich nutzlos herum. Und dieses Geschäft war keine
schlechte Idee. Verrückt, aber nicht schlecht.
»Tut es dir leid um das Haus?«
Es tat mir nicht leid, überhaupt
nicht. Ich war durch nichts mit diesem Haus verbunden, außer durch undeutliche
Erinnerungen, die ich nicht auffrischte, schon lange war ich nicht mehr an der
Brandstätte gewesen, es hatte keinen Sinn, den Trümmern des Vergangenen
nachzutrauern. Die Kindheit war lange vorbei. Was hatte ich von diesem
Tummelplatz der Geister, wo nicht einmal die Gebeine der Verstorbenen ruhten?
Ich spürte keinen Schmerz, nur Leere. Warum sollte ich sie nicht zuschütten?
»Was meinst du?«
»Ich stelle mir vor, daß du das Geld
auch vertrinken würdest wie Husaga. Bei einem Bosnier muß man auf alles gefaßt
sein.«
»Der Bosnier wird auf seine alten
Tage klug, wenn er nichts mehr davon hat. Ich mache keine Dummheiten. Also,
bist du einverstanden? Ich weiß einen Käufer für das Haus.«
»Tijana sagen wir nichts, sie würde
sich ärgern. Und wenn das Geld zum Teufel geht, weiß es niemand außer uns
beiden.«
»Es wird nicht zum Teufel gehen.«
Er sagte es so überzeugt, als leiste
er einen Schwur.
»Du hast nichts als Geschäfte im
Kopf. Wie kommt es, daß du dein Haus und deinen Laden noch nicht verpfändet
hast?«
»Ja, weißt du«, antwortete er
betreten. »Das gehört meiner Frau.«
Ich war bei ihm auf alles gefaßt
gewesen.
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