Die Festung
Menschen die schrecklichsten Dinge zu
predigen, die ein Mann von Ehre nicht einmal wiederholen könne (und dann
wiederholte er sie, als hätte er vergessen, was er eben gesagt hatte, als
hielte er sich selbst für keinen Mann von Ehre, was sicher ein Fehler war, der
ihm in seinem rhetorischen Feuer unterlief, und kein aufrichtiger Gedanke).
Dieser Besessene habe unsere Gesetze angegriffen, unseren Glauben, unseren
Staat, sogar den erlauchten Sultan. Aber obwohl all das furchtbar und kaum zu
fassen sei, habe man uns nicht deshalb hergebeten. Es ginge um gewichtigere und
bedeutsamere Dinge. Dieser Unhold habe einen Monat lang, Nacht für Nacht, vor
der überfüllten Moschee sein Gift ausgestreut. Und niemand, kein einziger, sei
in vollen dreißig Tagen aufgestanden, um dieser Gotteslästerung zu wehren, ihn am Sprechen zu hindern, ihn bei
der Obrigkeit anzuzeigen. (Also hatten ihn nicht die Menschen, zu denen er
gesprochen hatte, bei der Obrigkeit angezeigt, sondern ihre eigenen Leute!) Und
nun frage er, wo seien die wahren Gläubigen? Wo sei die Obrigkeit all die Zeit
gewesen, und was habe sie getan? »Wir waren blind und taub, das müssen wir
sagen, wir haben geschlafen und zugelassen, daß der ärgste Feind dem Volk
sagte, was ihm in den Sinn kam. Und die Obrigkeit, die wissen muß, was
verdächtige Leute tun, hat keinen Finger gerührt. Können wir dulden, daß jeder
Verbrecher nach Lust und Laune unsere Heiligtümer bespeit? Können wir zulassen,
daß das Volk von finsteren Menschenhassern vergiftet wird?«
»Damit ist es nun aus!« sagte der
Kadi düster und unterbrach Zafranijas kunstvoll geknüpfte Rede, die offensichtlich
noch nicht zu Ende war. Noch blieben viele schöne schmückende Worte und
Wendungen in der Kehle des Redners zurück, zu unserem und seinem großen
Schaden, aber er nahm diese Rücksichtslosigkeit des Kadis als Lob hin, als
schönsten Abschluß und Punkt unter seinen Worten. Als Unterschrift des Kadis
für alles, was er gesagt hatte. Deshalb strahlte er wie eine Braut bei der
Vermählung.
»Ihr werdet euch dazu äußern, aber
solche Verbrechen und solchen Mangel an Wachsamkeit wird es in meinem Amtsbereich
nicht mehr geben. Ich hoffe, daß ihr eure Meinung sagt, ohne Rücksicht darauf,
was ich denke. Und nun sprecht!«
Nach dieser freundlichen
Aufforderung des Kadis trat eine kurze Pause ein; wahrscheinlich mußten sie
Luft holen, aber sie sammelten sich schnell und beeilten sich, ihre Ansicht zu
äußern. Langes Zögern hätte nach Unentschlossenheit, ja sogar nach Mißbilligung
aussehen können, und davor sollte Gott sie bewahren.
Als erster erhob sich mein
verhinderter Wohltäter, der taube Volksvertreter Mula Ismail. Ich wußte nicht,
wie er begriffen hatte, daß die Rede von einem Feind des Reiches war, aber er
war im Bilde. Vor uns stünde die Frage der Mißachtung der Obrigkeit, sagte er,
die Frage der Mißachtung der Gesetze, die Frage der Mißachtung des Glaubens.
Und das sei ein Vorzeichen der Pest. Wir jedoch seien uneinig, und Uneinigkeit
unter Moslems sei ein Vorzeichen der Pest. Den ganzen Monat hätten die Hunde
geheult, und das sei ein Vorzeichen der Pest.
Sie unterbrachen ihn nicht, sie
lächelten nicht einmal, während er erschöpfend über Ursachen und Vorzeichen der
Pest redete, irgendwie fügte sich das in die Verhandlung über Ramiz. Wer die
Pest brachte, der war bestimmt gefährlich. Das brauchte zwar nicht bewiesen,
mußte aber gesagt werden.
Der Gelehrte Rahman erläuterte die
Gründe und Wurzeln der Lehre Hamzevijas, die jede Obrigkeit ablehne und Unordnung
predige, in der jeder sich um sich selbst zu kümmern habe. Aus den. vielen
Angaben, Jahreszahlen, Namen, unklaren Ausdrücken zog ich für mich den Schluß,
aber wer wußte schon, ob es so war, daß diese Lehre irgendwann und irgendwo als
Folge der Verarmung und Unzufriedenheit der Bauern entstanden war, deren
Lebensbedingungen schwer waren. Heute sei diese Lehre ebenso sinnlos wie zur
Zeit ihrer Entstehung, ja noch sinnloser, denn jeder könne sehen, daß die
Bauern heutzutage gut lebten und der Macht des Sultans Ehre erwiesen. Er sei
der Meinung, daß man die Unwissenden und Verirrten mit diesen
wissenschaftlichen Tatsachen vertraut machen müsse, wenn sie auch nur in der
Minderheit seien, damit sie nicht auf Betrüger hereinfielen.
Der Gelehrte Numan ging in seiner
Rede von der Behauptung aus, daß jede Lehre irrig sei, die nicht auf dem
Glauben beruhe. Der Glaube sei unfehlbar, denn er sei Gottes
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