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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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ungern, denn sie war
redlich, aber sie sagte es, um mich zurückzuhalten. Und sie sagte noch mehr:
    »Was kannst du machen, er ist
schuld. Er hat gegen sie geredet. Es ist umsonst, sie werden ihn nicht
freilassen. Denk nicht mehr an ihn, es hat keinen Zweck.«
    Es hatte keinen Zweck, keinen Sinn,
keinen Nutzen. Sie hatten uns Angst eingejagt, wir wagten nicht einmal, für
jemanden um Gnade zu bitten. Niemand würde für ihn sprechen.
    Und was
konnte ich tun?
    Kein Name, kein Werk, keine
Stellung, kein Reichtum, keine Familie, nichts stand hinter mir. In wessen
Namen hätte ich sprechen sollen? Im Namen des Mitleids? Was bedeutete irgend
jemandem mein Mitleid?
    Und aus welchem Grund? Aus
Gewissenspflicht, die es nicht gab, für einen Menschen, dem ich nichts
schuldete, für eine Straftat, die nicht verziehen wurde?
    Ich wollte
nicht an das Unmögliche denken.
    Ich wollte
nicht an Ramiz denken.
    Ich frühstückte, ohne zu wissen, was
ich aß, Tijana sah mich an wie einen Kranken und verbarg unter gezwungenem
Lächeln ihre Besorgnis.
    Ich sagte, ich wolle einen kleinen
Spaziergang in die Stadt machen.
    »Warum bleibst
du nicht zu Hause?«
    »Mittags ist eine Versammlung in der
Moschee. Zafranija hat mich eingeladen.«
    »Warum
dich?«
    »Ich weiß
nicht.«
    »Und was
ist das für eine Versammlung?«
    »Es geht um
Ramiz. Mehr weiß ich nicht.«
    »Sag
nichts, ich bitte dich. Versprich es mir.«
    »Aber nein, was sollte ich auch
sagen. Wenn ich nicht müßte, würde ich gar nicht hingehen.«
    »Mein Gott, war das auch noch nötig?
Komm gleich zurück, wenn es vorbei ist. Übrigens, gestern abend hat Osman Vuk
nach dir gefragt. Was er wollte, hat er mir nicht gesagt.«
    Ihn hatte ich völlig vergessen.
    Feuchte Dächer, feuchte Lattenzäune,
feuchte Gassen, kühle Luft, blauer Himmel, junge Sonne.
    Ich wußte nicht wie, auf einmal
hatte ich alles vergessen, ich ging dahin wie durch Tau, durch frisches Wasser,
durch grünenden Wald, das Blut perlte in meinen Adern, ich empfand eine stille
grundlose Freude, alles in mir war rein und klar wie ein Bergquell.
    Ich wollte nicht an Ramiz denken.
    Wie spät war es?
    Bis zum Mittag wollte ich nicht an
ihn denken.
    Bis zum Mittag.
    Ich versuchte mich von dem zu
befreien, was mich bedrängte. Oder der Körper rebellierte gegen den Alptraum,
der den Verstand quälte. Der Körper war klüger als der Verstand, er wußte alles
über sich, alles, was er brauchte, was er nicht brauchte, sogar das, was wir
nicht wußten. Der Körper war wie eine Pflanze, wie ein Reh. War es ein Glück
oder ein Unglück, daß nicht der ganze Mensch so sein konnte?
    Aber zu Mittag würde ich vor nichts
mehr entfliehen können. Und kaum fiel mir alles ein, spürte ich wieder Trägheit
der Glieder und Verwirrung der Gedanken.
    Und wieder war ich ein Mensch, der
sich quälte und nichts wußte.
    Ich dachte nicht eben gescheit, und
ich quälte mich nicht zu sehr, aber doch so, daß mir der Morgen nicht mehr
strahlend erschien.
    Ich wollte nicht an Ramiz denken,
aber ich dachte an ihn. Ich konnte nicht anders.
    Ich hatte ihm in eine selige,
paradiesische Leere entkommen wollen, aber ich war nur für einen Augenblick
eine Pflanze, ein Reh, ein gesunder Körper gewesen. Ich wollte es nicht
bleiben. Lieber war ich ein närrischer Mensch, der an etwas dachte, was ihn nichts
anging, was er nicht ändern konnte, was ihm so fern war wie ein Stern am
Himmel.
    Ich konnte nichts tun, aber ich dachte.
    Nur das konnte ich. Ich plagte mich
mit dem Gedanken an einen guten Menschen, der in der Festung den Tod erwartete.
Ich würde an ihn denken und dann vergessen. Wie so viele andere Dinge.
Allmählich wurde ich zu einem Abladeplatz verfaulter Betrübnisse, Mitleids-
und Schamgefühle, toter Schwüre, erniedrigter Würde, und all diesen Müll würde
ich Erfahrung nennen. Schon spürte ich seinen Gestank, noch spürte ich ihn,
später würde es mir gleichgültig sein.
    Ich war aus dem Haus gegangen, um
irgendwen zu treffen, irgend etwas zu hören, mich zu unterhalten, Fragen zu
stellen. Aber ich traf niemanden, hörte nichts, unterhielt mich über nichts.
Mit wem, was, worüber? Niemand wußte es, niemanden ging es etwas an, niemand
wollte etwas sagen. Oder er würde sagen, was ich wußte: daß es am besten war,
sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
    In einem Hof gab es eine
Hochzeitsfeier. Das Tor stand offen, der Hof war voller junger Leute, eine
unsichtbare Trommel schlug, es wurde getanzt, man hörte Gelächter und

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