Die Festung
Schuldiger. Aber er dürfe nicht zum Märtyrer
werden und seine Worte nicht zur Saat, obwohl die Zeit die Mehrheit
der Verführten zur Vernunft bringen würde. Man müsse ihm den Glorienschein des
Märtyrers abnehmen, die Saat seiner Worte zertreten, damit nicht eine einzige
böse Folge aufkeimte. Wie? Ganz einfach. Er müsse selbst alles widerrufen. Ich
solle ihn dazu überreden. Kein anderer sei dazu imstande.
Er kam mir so nah, daß er mich fast
mit den Lippen berührte, als flüsterte er es meiner Nase zu, ich spürte säuerlichen
Atem und schweres orientalisches Parfüm. In meinem Kopf drehte sich alles, ich
mühte mich, meine Gedanken zusammenzuhalten, damit sie nicht in alle Richtungen
davonflogen wie erschrockene Spatzen.
Was sollte ich sagen? Wie mich
herauswinden? Immer verlangte er eine sofortige Antwort, gab mir keine Zeit zum
Überlegen. Ich wußte, was ich sagen mußte, aber wie konnte ich es vermeiden,
mir selbst zu schaden?
Ich sagte ausweichend, als brauchte
ich eine Atempause: »Ich glaube nicht, daß er zustimmen würde.«
Zafranija war nicht wie ich, er hatte
auf alles eine Antwort bereit: »Angst vor dem Tod ist eine schlimme Sache, mein
Ahmet. Soll er in die Moschee gehen und den Leuten sagen, daß es falsch war, so
zu ihnen zu sprechen, daß er sich auf diese Weise für eine persönliche Kränkung
habe rächen wollen, daß er aber nun über alles nachgedacht habe und es als
rechtschaffener Mensch bedauere, ihnen einen Irrweg gewiesen zu haben. Wenn er
das sagt, oder etwas Ähnliches, lassen wir ihn frei. Er wird nur nicht
hierbleiben können, sondern fortgehen müssen.«
»In die
Verbannung?«
»Lebend.«
»Und wenn
er nicht zustimmt?«
»Dann
bleibt er hier. Tot.«
»Er wird
hingerichtet?«
»Er hat eine schwere Sünde begangen.
Oder meinst du nicht?«
»Doch.«
»Also bist
du einverstanden?«
»Kann ich
darüber nachdenken?«
»Warum? Du tust nichts Böses. Du
versuchst, ihm das Leben zu retten.«
»Es ist nicht böse, aber
ungewöhnlich.«
»Auch für ihn wäre es besser so. Ich
mag keine Gewalt. Wirklich! Es ist die Art von Höhlenmenschen, ihre Widersprüche
auszutragen. Ich möchte niemanden umbringen. Du auch nicht. Er wahrscheinlich
auch nicht.«
»Ich weiß nicht, mir fällt die
Entscheidung schwer.«
»Du führst die Menschlichkeit offenbar nur im Munde.
Ehrlich gesagt, ich wollte auch dir helfen.«
»Mir helfen?«
»Du sagst selber, daß ihr sehr
vertraut miteinander wart. Wer würde dir glauben, daß er dir nur von seiner
Familie und seinem Mädchen erzählt hat?«
»Auch du glaubst es nicht?«
»Ich glaube es, solange es mir
nützt.«
»Ich sage dir morgen Bescheid.«
»Du wirst vernünftig sein, hoffe
ich.«
O ungerechter Gott, was wirst du
noch auf mein Haupt herabsenden! Es ist nicht das Klügste und nicht das Dümmste.
So viele Schuldige und Unschuldige kommen ihr Leben lang nicht aus dem Gähnen
heraus. Warum hast du gerade mich dazu auserwählt, nie Langeweile zu haben? Und
stets muß ich unlösbare Aufgaben bewältigen wie der dritte Bruder im Märchen.
Ich möchte, daß mein Leben ein bißchen langweilig und leicht und glatt
verläuft, möchte den Sommertag bis zum Mittag verschlafen und ohne Kümmernisse
erwachen, möchte nicht mit Angst an morgen denken.
Ich hatte mich gegen den Serdar
Avdaga gewehrt, indem ich ihm die rührende Geschichte von der Familie und dem
Mädchen des jungen Mannes erzählte, und dabei hatte ich gerade das
preisgegeben, was sie brauchten.
Ich hatte den Richtigen getroffen,
um ihn zu rühren.
Was sollte ich tun? Wenn ich
Zafranijas Angebot ablehnte, würde er mich nicht verschonen, er hatte selbst
gesagt, daß er mich in Ramiz' Fall verwickeln würde. Sie wußten, daß er mit mir
nicht über Vaterhaus und Familie gesprochen hatte, und würden alles tun, die
Wahrheit aus mir herauszupressen. Wenn ich sie sagte, war ich Mittäter, weil
ich ihn nicht angezeigt hatte, mein Geständnis würde ihnen als Beweis dienen.
Wenn ich nichts sagte, war ich dennoch schuldig, als Beweis würde ihnen ihre
Überzeugung dienen.
Aber wie konnte ich ihm mit dem
Vorschlag unter die Augen treten, alles zu widerrufen, was er gesagt hatte? Es
war nicht wichtig, daß er ablehnen würde, und er würde sicher ablehnen, es war
nicht das Schlimmste, daß ich wieder Zafranija ausgeliefert sein würde. Das war
zwar ein Übel, aber nicht das ärgste.
Was mir unerträglich war, und in
meinen Überlegungen blieb ich immer hier stehen, ich kam nicht
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