Die fetten Jahre
»Deutschland? Da bin ich schon vor Ewigkeiten weg!«
»Hattest du nicht einen Deutschen geheiratet?«, fragte ich in Anspielung auf die Geschehnisse von damals, vor zwanzig Jahren.
»Meinst du etwa Hans?« Sie ließ mich spüren, dass meine Informationen hoffnungslos veraltet waren. »Das ist doch schon lange vorbei. Deutschland – todlangweilig! Ich bin nach Paris gegangen. Jean-Piere Laveille ist mein Exmann.« Als keine Reaktion von mir kam, fügte sie hinzu: »Der berühmte Sinologe.« Ich hatte den Namen noch nie gehört. »Sinologen haben alle einen Knacks. Lange hält man das nicht aus«, ergänzte sie ungefragt.
»Jian Lin stellte dich als ›Professorin‹ vor …«
»Professorin, Doktorin, wie man möchte. Ich habe meinen Doktor am Sciences Po in Paris gemacht. Kennst du das Sciences Po? Ich bin Expertin für Europa- und Afrikapolitik, die Europäische Union und die chinesische Regierung lassen sich oft von mir beraten.« Mir fiel ein, dass ihr Vater in der Zentralen Propagandaabteilung gearbeitet hatte. Roter Stamm, roter Spross. Sie bewegte sich mit Leichtigkeit inner- und außerhalb des Systems, nahm alles mit, was mitzunehmen war.
»Hast du vor, wieder nach China zu ziehen?«
»Nach China? Mal sehen.« Sie klang jetzt unverhohlen überheblich. »Drüben in Europa wartet man auf mich. Es gibt sogar einen echten Adligen, der mir ständig mit Heiratsanträgen in den Ohren liegt. Aber jeder weiß doch jetzt, dass das einundzwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert der Chinesen ist. Wenn sich eine besonders reizvolle Gelegenheit ergäbe, dann wäre ich durchaus bereit, meine Fähigkeiten in Chinas Dienste zu stellen. Aber fürs Erste pendle ich wohl weiterhin; ich habe Wohnungen in Paris und Brüssel, in Peking suche ich gerade noch nach etwas Passendem. Und du? Was machst du in Peking?«
»Ich sitze in meinen vier Wänden und schreibe ab und an ein bisschen.« Ihr Interesse für mich war augenblicklich nur noch halb so groß.
»Und wo wohnst du?«
»Im Happy Village II.«
»Wo?«
»Happy Village II, an der Dongzhimenwai Road.«
Sie zeigte keine Reaktion, wahrscheinlich war der Ort in ihren Augen nicht luxuriös genug. Meine Vermögensverhältnisse waren geklärt, womit auch ihr restliches Interesse an mir erlosch.
»Chen, ich muss los, hab noch etwas zu erledigen …«
»Kein Problem. Ich bleibe noch ein wenig hier.«
»Das mit Jian Lin …«
Ich versiegelte meine Lippen mit einem imaginären Reißverschluss.
Sie erhob sich und kokettierte zum Abschied: »Jetzt, wo du ein echter Pekinger geworden bist, musst du mich mal ausführen.«
Beinahe wäre mir ein »Wofür hältst du dich eigentlich?« rausgerutscht. Aber ich beherrschte mich.
Sie stand auf und fügte noch hinzu: »Du musst auf mich aufpassen.«
Das nennt man wohl einen glänzenden Abgang hinlegen. Oder auch: eine Reiserücktrittsversicherung abschließen, je nachdem. Im einen Augenblick Dame von Welt, im nächsten kleine schwache Frau. Das ganze Repertoire. Sie war sich wohl für nichts zu schade.
Ich hatte das Gefühl, dass sie mich wieder als Notnagel benutzte.
Durch die Glasscheibe des Fensters sah ich, wie sie in einen schwarzen BMW mit den Buchstaben WJ auf dem Nummernschild stieg, dem Kennzeichen der Militärpolizei.
Zweiter Frühling
Die Tage danach hatte ich nichts vor und es meldete sich auch niemand bei mir. Es gelang mir weiterhin nicht, etwas Brauchbares zu schreiben; ich dachte an Xiaoxi, wusste aber nicht, wie ich sie erreichen konnte.
Es war wieder der erste Sonntag des Monats und zum zweiten Mal in Folge waren He Dongsheng und ich Jian Lins einzige Gäste, fast schon so, als hätte er es für He Dongsheng bewusst so eingerichtet.
Als ich bei BOBO ankam, hatte Jian Lin bereits etwas getrunken, und zwar recht viel. Als er mich hereinkommen sah, sagte er: »Wen Lan hat mich verlassen.« Er versuchte sich an einem Lächeln, aber es wirkte gezwungen und dümmlich. »Sie hat mir den Laufpass gegeben.«
Dieses Gefühl kannte ich gut. Die verspätete Midlife-Crisis schlägt zu und man verliert sein Herz an die falsche Frau. Ein nicht mehr ganz junger, betont kultivierter und wohlhabender Geschäftsmann wie Jian Lin musste angesichts einer schönen und gebildeten Frau wie Wen Lan einfach den Kopf verlieren.
»Wer ist der Neue?«, fragte ich intuitiv.
Jian Lin rang sich ein bitteres Lächeln ab. Kopfschüttelnd antwortete er: »Mein Cousin. Allerdings wird sie sich diesmal den Kopf wund stoßen.«
»He
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