Die fetten Jahre
Seminarräume des Goethe-Instituts saß ich lange vor einem unbeschriebenen Blatt Papier und starrte ins Leere. Gerne hätte ich ihr ein paar Zeilen geschickt, doch ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte.
Etwas mehr als drei Monate später bekam ich einen Brief von ihr. Sie schrieb, dass sie geheiratet hatte, dass ihr Mann Deutscher war, Dozent am Goethe-Institut und Abteilungsleiter einer deutschen Firma. Es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Jetzt lebten sie in Deutschland und seien sehr glücklich zusammen. Sie schrieb nicht, in welcher Stadt sie wohnte, und entschuldigte sich auch nicht bei mir. Sie tat, als wäre nichts gewesen, deutete lediglich in einem kurzen Satz etwas in der Art an, dass sie wie ein junger Vogel sei, der danach dürstete, sich vom Wind in die Ferne treiben zu lassen, endlich die Flügel aufzuspannen und lieber heute als morgen fortzufliegen, denn das morgen sei noch zu weit entfernt.
Selbst wenn Wen Lan mich geheiratet hätte – sie hätte ja aufgrund der damaligen Einwanderungspolitik tatsächlich nicht sofort, sondern erst nach zwei Jahren nach Hongkong ziehen dürfen, und ich verübelte es ihr auch nicht, dass sie statt nach Hongkong nach Deutschland geheiratet hatte. Ich konnte sogar verstehen, dass sie nicht alles auf ein Pferd hatte setzten wollen. Wütend war ich, weil sie mich nicht nur bis zuletzt getäuscht, sondern auch dann noch völlig im Dunkeln gelassen hatte, als ihre Entscheidung längst gefallen war. Sie hatte einzig und allein ihren eigenen Vorteil im Sinn und nahm dabei auf niemanden Rücksicht. Nach diesem bitteren Erwachen erloschen meine Gefühle für sie ein für alle Mal.
Und nun traf ich sie in dieser Galerie wieder. Ich hatte keine Lust darüber zu spekulieren, in welcher Beziehung sie wohl zu Jian Lin stehen mochte.
Den Abend verbrachte ich lesend in einem singapurianischen Restaurant ganz in der Nähe meiner Wohnung. Ich las ein E-Book auf meinem Smartphone von K-Touch. Früher hauptsächlich für billige Imitate bekannt, war die Marke inzwischen weltweit ein Begriff, und das Modell, das ich hatte, verfügte über alle nur erdenklichen Extras. Aus Gewohnheit schaute ich zwar noch regelmäßig bei SDX vorbei, aber seit es das e-Reader-Handy von K-Touch gab, las ich mehr und mehr E-Books. Auf meinem Handy waren bereits die gesammelten Werke von Louis Cha, Eileen Chang und Lu Xun gespeichert.
Ich versuchte gerade, Lu Xuns Die verlorene gute Hölle zu verstehen, als Wen Lan mich anrief. Sie wollte sich mit mir treffen. Ich gab vor, mit einem wichtigen Artikel beschäftigt zu sein, doch sie ließ nicht locker, und schließlich verabredeten wir uns für den Mittag des folgenden Tages. Sie schlug das Maison Boulud in der Qianmen Road vor. Dort gab es kaum Taxen, einen Chauffeur hatte ich auch nicht, ganz abgesehen davon sah ich nicht ein, warum ich mich nach dem französischen Kristallleuchter richten sollte, also nannte ich als Treffpunkt ein kleines Café in der Qianliang-Hutong, einer der wenigen noch erhaltenen historischen Gassen, die einmal typisch für Peking gewesen waren.
»Wo genau liegt denn die Qianliang-Hutong?«, wollte sie wissen, worauf ich unwirsch entgegnete: »An der Dongsibei Road, nicht weit von eurer Wohnung in Shatan, solltest du eigentlich kennen.« Sie nahm meinen Ausbruch ohne Widerworte hin – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie mich um einen Gefallen bitten wollte.
Und tatsächlich kam sie bei unserem Treffen am nächsten Tag ohne Umschweife zum Thema: »Jian Lin und ich sind Freunde, nichts weiter. Aber bitte erzähl das nicht herum, er ist schließlich verheiratet.«
Darum ging es also. Ich sollte Stillschweigen wahren. Zwanzig Jahre hatten wir uns nicht gesehen, und wegen einer solchen Bagatelle wollte sie mich treffen. Merkwürdigerweise wurde ich nicht einmal wütend, mich interessierte es nur zu sehen, wozu sie sonst noch im Stande war. »Als Immobilienmagnat ist er vor allem gut situiert«, stichelte ich.
»Immobilien, was zählt das schon! Dann hat er eben einen Haufen Geld, na und?«
Ganz schön großspurig. Hatte sie etwa schon den nächstgrößeren Fisch am Haken? Ich musste zugeben, dass sich Wen Lan, die inzwischen Anfang vierzig war, sehr gut gehalten hatte. Eine Art europäisches Flair umgab sie. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie die Männer nach wie vor reihenweise um den kleinen Finger zu wickeln verstand.
»Lebst du noch in Deutschland?«
Sie sah mich verständnislos an:
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