Die fetten Jahre
Ehre erweisen und eine Einladung zum gemeinsamen Abendessen bei Zhang Duo und Miaomiao annehmen würde.
Chen war nicht wirklich erpicht darauf, Fangs Zuhause kennenzulernen, aber da er bei der Suche nach Xiaoxi vielleicht auf seine Hilfe angewiesen sein würde – und abgesehen davon an jenem Abend nichts anderes vorhatte –, willigte er ein.
Fang Caodis Lebensgeister kehrten zurück und er begann zu plaudern. Er deutete in Richtung der Gegend südlich der Chang’an Road: »Früher haben dort in Massen die Leute kampiert, die aus dem ganzen Land nach Peking gekommen waren, um vor den obersten Gerichten ihr Recht einzuklagen. Ich bin extra dorthin gefahren um zu sehen, ob vielleicht Artgenossen dabei sind, aber wissen Sie, wie es dort inzwischen aussieht? Alles ist wie ausgestorben, weit und breit kein einziger Kläger. Auch die Siedlungen im Südviertel, wo früher viele von ihnen gehaust haben, sind inzwischen abgerissen. Ich hatte auch erst überlegt, ob Ihre Bekannte vielleicht dort untergetaucht sein könnte.«
Chen hatte schon seit Jahren nicht mehr an die Menschenscharen gedacht, die von weit her nach Peking gekommen waren, um auf ihr Recht zu pochen. Aber in einem war er sich gewiss: Selbst wenn die Kläger noch dort wären, würde Xiaoxi sich niemals in dieser Gegend verstecken, denn es verkehrten auch Richter und Staatsanwälte dort. Denen würde sie mit Sicherheit aus dem Weg gehen wollen – nicht, dass sie noch einer erkannt hätte.
Fang plapperte munter weiter, doch Chen hörte gar nicht mehr zu. Hätte er gewusst, dass Fang so abgelegen wohnte, wäre er lieber nach Hause gefahren.
Bei dem kleinen Häuschen in Huairou angekommen, stellte ihm Fang Caodi Zhang Dou, Miaomiao und einen Teil der vielen Hunde und Katzen vor, die mit ihnen dort wohnten. Dann führte er Chen ins Haus: An allen vier Wänden waren Metallregale angebracht, vollgestopft mit Zeitungsausschnitten, Magazinen und einem Wust kaputter Gegenstände, dazwischen ein Schreibtisch, ein paar Klappstühle und ein Faltbett.
Fang Caodi zeigte auf einen Stapel Zeitungen und sagte: »Das sind alles Beweise, die ich in den letzten zwei Jahren überall im Land zusammengetragen habe, Herr Chen. Damit kann ich nachweisen, dass jene achtundzwanzig Tage sich nicht so abgespielt haben, wie alle behaupten. Sie sind ein Gelehrter, ein Leben lang auf der Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten, ein Kämpfer für die Vernunft. Sie verstehen sicher, was mich umtreibt. Sehen Sie sich in Ruhe um, ich bereite derweil unser kleines Candle Light Dinner vor.«
Konsterniert blieb Chen allein zurück. Miaomiao kam herein, stellte ihm wortlos ein paar Schokoladenkekse auf den Tisch und ging wieder.
Chen wusste nichts anderes mit sich anzufangen, als sich einen der ungezuckerten Kekse in den Mund zu schieben und beliebig in ein paar der herumliegenden Schundmagazine und zerfetzten Regionalblättchen zu blättern. Er verstand wirklich nicht, was für geschichtliche Hinweise Fang darin zu sehen glaubte. Überall lagen einzelne Seiten aus der Southern Weekly, der Southern Metropolitan und der China Youth Daily, außerdem ein paar vollständige und mehrere halbe Exemplare von Caijing, Southern Window und dem Asia Weekly Magazine herum.
Chen versuchte, sich den fraglichen Monat ins Gedächtnis zu rufen. Er hatte ihn in Peking verbracht; alles musste friedlich, ruhig und ohne bemerkenswerte Vorkommnisse gewesen sein, sonst hätte er sich sicher daran erinnert. Aus den so genannten ›Beweisen‹, die Fang zusammengetragen hatte, ging zwar hervor, dass es andernorts vereinzelt Unruhen gegeben haben musste, aber das war an sich ja nichts Besonderes. In einem so großen Land wie China kam es jeden Tag irgendwo zu Zwischenfällen. Chen ignorierte solche Meldungen für gewöhnlich einfach oder übersprang sie schnell, wenn er doch einmal darauf stieß – daher war es nicht weiter verwunderlich, dass er von diesen Vorkommnissen nichts mitbekommen hatte. In diesem Riesenreich gab es zuhauf Dinge, von denen man noch nie gehört hatte. Es war wie in der Geschichte mit den Blinden und dem Elefanten: Jeder betastete nur einen Teil des Ganzen und niemand hatte ein umfassendes Bild. Das war erkenntnistheoretisch ja auch gar nicht möglich. Fang Caodis ›Beweise‹ waren bloße Fragmente, sie hatten keine Aussagekraft. Und seine Behauptung, dass ein ganzer Monat ›einfach verschwunden‹ sei, war doch Blödsinn – vielmehr hatte ihn lediglich jeder anders in Erinnerung. Was
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