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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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über zwanzig Jahre her, dass er Wen Lan seinen Antrag gemacht hatte. So viele Jahre hatte er nicht gewagt, noch einmal echte Gefühle für jemanden zu entwickeln, sein Herz wieder zu öffnen; Xiaoxi sein Innerstes zu offenbaren, kostete ihn große Überwindung. Reglos saß er zwei Stunden vor dem Computer, dann brachen sich die Worte endlich Bahn und ergossen sich in einen fünftausend Schriftzeichen langen Brief, den er mit der Überschrift »Brief eines Nicht-Fremden an kornichtot« versah.
    Der erste Satz lautete: »Während du diese Zeilen liest, sitze ich im Modern Fu Xi Internet Café, Huanghe Road, Wenquanzhen, Kreis Wen, Stadt Jiaozuo, Provinz Henan …« Chen beschrieb, wie er Xiaoxi im Wudaokou der neunziger Jahre kennengelernt und sie schon damals sehr gemocht hatte. Doch zum einen war sie ständig von Männern umringt und dann mit ihrem englischen Freund zusammen gewesen, zum anderen hatte er aus einer früheren Beziehung so tiefe emotionale Wunden davon-getragen, dass er nicht den Mut aufgebracht hatte, sich noch einmal zu verlieben. Und ausgerechnet die Frau, die ihm diese Wunden zugefügt hatte, war bei ihrem letzten Treffen dazwischengeplatzt. Chen erzählte die ganze Geschichte, wie er Wen Lan kennengelernt, sich mit ihr verlobt und dann den Laufpass erhalten hatte, um dann, zwanzig Jahre später, unvermittelt einem französischen Kristallleuchter über den Weg zu laufen. Allerdings – und jetzt kam Chen zum Wesentlichen – habe er sein Herz da bereits seit einigen Monaten an eine andere Frau verloren gehabt, eine Frau, die ebenfalls vor langer Zeit aus seinem Leben verschwunden sei. Er schilderte sein Suchen nach einer Kontaktmöglichkeit, sein Warten auf ihre Antwort, ihr erstes Wiedersehen und wie er sie dann, Fräulein Wens Auftritt wegen, erneut aus den Augen verloren hatte. Er berichtete, wie er das Internet nach ihr durchkämmt hatte und ihr, nur auf ein paar kaum verlässliche Hinweise gestützt, nach Henan gefolgt war, wo er durch mühsame Puzzlearbeit ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatte. Dann sprach er aus, was Xiaoxi nun schon geahnt haben musste: dass sie diese Frau sei und er sich nichts sehnlicher wünsche, als dass sie ihm noch einmal eine Chance gäbe, ihm ihre Zeit schenke, in Henan, in Peking oder wo immer es ihr gefiel, damit er ihr seine Liebe beweisen könne. Sein größter Wunsch sei es, zusammen mit ihr seinen Lebensabend zu verbringen, gemeinsam alt zu werden und die verbleibenden Jahre miteinander zu teilen. Dann ergänzte er noch, dass er einen Freund mitgebracht habe, der ihr helfen konnte, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen.
    Chen wollte seinen Brief eigentlich als Kommentar an einen von Xiaoxis Blogeinträgen anhängen, aber er überschritt die erlaubte Zeichenzahl und ließ sich nicht abschicken, also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn zu zerstückeln und nur einen Teil auf Xiaoxis Seite zu veröffentlichen, versehen mit der Mitteilung, dass der ganze Text in einem eigens eingerichteten Blog bei Sina.com zu lesen war.
    Chen hatte seinen Einsatz gemacht; nun harrte er ruhig vor dem Computer aus und sah im Abstand von ein paar Minuten nach, ob es schon eine Antwort gab.
    Tatsächlich sah Xiaoxi gleich nach dem Mittagessen seinen Kommentar in ihrem Blog, las bei Sina.com den ganzen Brief und saß dann eine Weile wie gelähmt da, außerstande, sich zu bewegen. Die letzten zwei Jahre über hatte Xiaoxi stets gehofft, einen Mann zu finden, mit dem sie sich austauschen konnte, einen Partner, mit dem sie leben und den sie lieben konnte. Doch ein ums andere Mal war sie enttäuscht worden. Nachdem sie auf Chen getroffen war, hatte sie wieder Hoffnung geschöpft, denn er schien anders zu sein als die anderen Männer; doch stattdessen wäre sie fast in eine Dreiecksbeziehung hineingeraten. Und gerade, als es ihr zunehmend schlechter ging und die Verzweiflung überhand zu nehmen drohte, hatte sie die Kirche gefunden. Zwar glaubte sie nicht an Gott, aber sie war dennoch Teil einer großen Familie geworden. Als sie dann mit den Bauern von Zhangjiacun in Kontakt gekommen war, hatte sie sich endlich wieder nützlich gefühlt. Sie hätte niemals gedacht, dass just in diesem Moment Chen wieder in ihr Leben treten, ihr sein Herz ausschütten und sie bitten würde, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen.
    Über eine Stunde saß sie reglos vor dem Bildschirm, wissend, dass vor einem anderen Bildschirm ein anderer ebenso reglos dasaß und auf eine Nachricht von ihr

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