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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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wartete.
    Schließlich schrieb sie in das Kommentarfeld: »Ich bin nicht mehr die Xiaoxi, die du von früher kennst.«
    Wenige Sekunden später erschien Chens Antwort: »Du gefällst mir jetzt noch besser.«
    »Ich habe Depressionen.«
    »Ich weiß. Ich werde für dich da sein.«
    »Mein Körper ist alt und eingefallen.«
    »Ich bin Zeuge deiner Schönheit.«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich mich verlieben möchte.«
    »Ich werde geduldig warten, bis du es willst.«
    »Sicher ist, dass ich im Moment gar keine Zeit für Liebe habe.«
    »Ich werde warten – in Henan oder sonstwo auf der Welt.«
    So ging es hin und her, inzwischen war längst fünf Uhr durch.
    Xiaoxi schrieb ihren letzten Kommentar: »Ich muss jetzt los. Gib mir Zeit zum Nachdenken.«
    Sie ging in die Küche, um gemeinsam mit den anderen das Abendessen zuzubereiten. Chen verließ das Café, um in der Weizenkorn-Kirche nach ihr Ausschau zu halten.
    Was die beiden nicht wussten, war, dass den gesamten Nachmittag über eine Schar anderer User gebannt ihren Dialog verfolgt hatte. Nachdem sie offline gegangen waren, begann eine lebhafte Diskussion, und unter den Kommentaren erschienen viele aufgeregte Meinungsbekundungen. Die einen fanden diese späte Liebe rührend, bei anderen erregte sie Schauder, eine fand sie süß, ein anderer ekelhaft. Die taiwanischen User zollten dem »Rentnerpärchen« virtuellen Respekt, vom Festland her gab es ein paar ROFLs und LOLs. Im Großen und Ganzen war man sich jedoch einig: Nicht texten – tun! Wäre schon okay, wenn die beiden zusammenkämen.
***
    Gegen sechs Uhr hatten die Glaubensbrüder und -schwestern der Weizenkorn-Gemeinde von Wenquanzhen zu Abend gegessen und machten sich, Dankbarkeit im Herzen, nach und nach auf zur Kirche, wo sie im Hof und vor dem Tor in frommer Erwartung auf den Beginn des Gottesdienstes warteten.
    Zur selben Zeit verließen Gao Shengchan und Li Tiejun das Hochhaus, in dem die Kreisregierung ihren Sitz hatte, blieben an der Straße stehen und schickten ein kurzes Dankgebet gen Himmel. Während ihrer Vorsprache bei Kreisvorsteher Yang am Vormittag schien eine übernatürliche Kraft Gao Shengchan zur Seite gestanden zu haben, die ihn genau die richtigen Worte finden ließ: fest und bestimmt, aber nicht drohend oder überheblich. Der Kreisvorsteher hatte sich zwar nicht geäußert, aber Gao Shengchan wusste, dass er verstanden hatte. Wie er Für und Wider abwägen und welches Schicksal die Kirche ereilen würde, lag nun allein in Gottes Hand. Nachdem sie gegangen waren, war sein Sekretär hinter ihnen her geeilt und hatte sie gebeten, in der Nähe zu bleiben und sich auf Abruf bereitzuhalten. Ein gutes Omen. Also hatten sie in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Regierungsgebäudes gewartet. Gao Shengchan hatte Li Tiejuns Hand gefasst und gemeinsam hatten sie gebetet.
    Kreisvorsteher Yang beriet sich erst mit seinen Vertrauten, dann ließ er telefonisch die Vertreter des Landkreises und des Immobilienkonsortiums zu sich beordern. Die Unterredung dauerte bis weit nach fünf Uhr an, dann endlich holte man Gao und Li erneut in sein Büro. Yang war ein Mann, der Wert auf seine Machtposition legte, und ihm war durchaus bewusst, dass Gao Shengchan ihn gekonnt ausgespielt hatte, aber um seiner Karriere willen musste er ihm gegenüber wohl oder übel Zugeständnisse machen. Er teilte ihm und Li Tiejun mit, dass die Landerschließung in Zhangjiacun fristgerecht durchgeführt werde, allerdings sei unter Vermittlung durch die Regierung eine höhere Entschädigung für die Betroffenen vereinbart worden und man habe die Planungen aufgrund des praktischen Bedarfs angepasst, sodass zufällig ausgerechnet die Wohnhäuser der Kirchenmitglieder nun außerhalb des Erschließungsgebiets lagen. Die Immobilienfirmen mussten sich mit weniger fetten Gewinnen begnügen, die Landkader sich ob ihres primitiven Bereicherungsversuchs in Grund und Boden schämen. Die Regierung hatte ihre Autorität gewahrt und einen organisierten Massenprotest frühzeitig abgewendet.
    Kreisvorsteher Yang geleitete Gao Shengchan und Li Tiejun förmlich zur Tür. Wenn er erst einmal in der Provinzregierung war, würde er sich nie wieder mit aufmüpfigen Kirchenleuten wie diesen hier herumärgern müssen, dachte er insgeheim. Gao Shengchan hatte sein Ziel erreicht und machte Yang zum Abschied ein Kompliment: Er zähle wirklich zu den Staatsdienern, die sich in elterlicher Fürsorge um das Volk kümmerten. Yang antwortete, er sei

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