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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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lediglich ein Amtsträger, dazu bestimmt, dem Volke zu dienen, denn dieses sei ihm wie Mutter und Vater. Sich so der gegenseitigen Elternschaft vergewissernd, verabschiedeten sie sich in kühlem Einvernehmen.
    Mit dem Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, machte sich Gao Shengchan auf den Weg zurück zur Kirche. Die Rechte der Gläubigen waren zurückgewonnen, die Kirche um einen Konflikt mit der Regierung herumgekommen. Allein die Gruppe der Brüder und Schwestern, die es kaum erwarten konnten, der Regierung die Stirn zu bieten, würden möglicherweise etwas enttäuscht sein, allen voran Xiaoxi. Doch Gao Shengchan hatte es schon immer verstanden, klare Prioritäten zu setzen.
    Als Gao Shengchan und Li Tiejun noch unterwegs zur Kirche waren, saßen Chen und Fang Caodi bereits inmitten der Gläubigen im Gebetsraum und hielten – die Hälse reckend – Ausschau nach Xiaoxi. Sie war noch in der Küche und hatte sich, nachdem sie bei der Vorbereitung von Tee und Gebäck geholfen hatte, gerade etwas von den emotionalen Strapazen des Nachmittags erholt. Doch als sie durch das kleine Fenster einen Blick in den Saal warf, begann ihr Herz erneut zu rasen: Zwischen den dort versammelten Gläubigen sah sie Chen sitzen. Sie verbarg sich neben dem Fenster und traute sich nicht, hinaus in den Gebetsraum zu gehen. Von nebenan drang »Was zähl ich schon?« zu ihr herüber, eine der Hymnen Kanaans von Xiaomin, einem Bauernmädchen aus Henan. Xiaoxi konnte vor Rührung kaum an sich halten.
    Gao Shengchan und Li Tiejun betraten den Saal. Gao gab ein Zeichen und Li Tiejun bat die Anwesenden um Ruhe, es gäbe etwas Wichtiges mitzuteilen. Dann verkündete er ihnen den neuen Entscheid der Lokalregierung. Im Anschluss daran sagte Gao Shengchan, das Unrecht, das den Brüdern und Schwestern aus der Gemeinde widerfahren sollte, sei abgewendet worden, ein Wunder, welches zeige, dass Gott ihre Gebete erhört habe. Die versammelte Gemeinde stimmte ein, als er rief: »Herr, wir danken dir!« Einige der Gläubigen hatten Tränen in den Augen. Viele kamen so gerne zu den Gottesdiensten, weil es dort stets derart bewegende Zeichen Gottes zu bewundern gab.
    Es war gerade wieder Ruhe eingekehrt, da stand Chen auf und sagte mit lauter Stimme: »Ich möchte etwas sagen.«
    Li Tiejun wollte ihn daran hindern, aber Gao Shengchan hielt ihn zurück und bedeutete ihm, dass er Chen sprechen lassen sollte. Gao Shengchan wusste, dass es Dinge auf dieser Welt gab, die sich nicht aufhalten ließen. Sollte der Herr darüber entscheiden.
    Chen sagte: »Meine Freunde, ich bin auf der Suche nach jemandem. Sie heißt Wei Xihong, manche nennen sie Xiaoxi.«
    Alle starrten den Fremden an, ohne zu antworten.
    »Ich bin ein Freund von ihr«, fügte Chen hinzu.
    Noch immer regte sich niemand.
    Chen fuhr fort: »Wenn ihr wisst, wo sie ist, dann sagt es mir, bitte. Ich muss sie sehen, denn ich … Ich liebe sie. Ich kann nicht ohne sie sein. Sagt mir bitte: Ist sie hier bei euch?«
    Alle Augen dieser Gutmenschen von Henan waren auf Chen gerichtet.
    Dieser wartete angespannt und kämpfte mit den Tränen.
    Geballtes Schweigen schlug ihm entgegen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
    Schließlich beruhigte Chen sich wieder und nickte resigniert mit dem Kopf. Er wandte sich um und ging mit großen Schritten in Richtung der Tür.
    »Chen!«
    In diesem Moment trat Xiaoxi aus der Seitentür.
    Chen drehte sich um.
    »Lass uns heim nach Peking fahren«, sagte sie sanft und gefasst.

Epilog:
Eine lange Nacht
oder: Warnende Worte in Goldenen Zeiten
    »Und das Leben des Menschen: einsam, kümmerlich, gemein, viehisch und von kurzer Dauer.«
    Thomas Hobbes (1588­–1679), Leviathan
    »Seht die dichten Ameisenhorden ihre Reihen formen, die wirre Bienenschar ihren Honig fertigen, die surrende Fliegenmeute um das Blut streiten.«
    Ma Zhiyuan (1250–1321), Herbstgedanken
    »In der besten aller möglichen Welten ist alles, was da ist, das Beste.«
    Voltaire (1694–1778), Candide

Chinesische Idealisten
    Millionen und Abermillionen Chinesen haben die Jahre ideologischer Orkane erlebt, wurden geradezu getauft in Idealismus. Auch wenn diese Ideale später zu Albträumen wurden, in Desillusion endeten und letztendlich ganze Generationen ihre Ideale verloren, haben sie deswegen nicht ihren Idealismus aufgegeben.
    Fang Caodi und Wei Xihong sind in jener ideologiebeladenen Zeit aufgewachsen. Vielleicht ist es ihnen selbst gar nicht be­wusst – aber ganz gleich, wie sich die Zeiten

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