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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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ändern oder sich ihr Umfeld wandelt, der vehemente Glaube an Ideologien, den sie in ihrer Jugend ausgebildet haben, sowie die Sehnsucht nach einem weltanschaulichen Ideal prägt ihre Persönlichkeiten noch immer. Wenn das eine Ideal sich verflüchtigt, ersetzen sie es zwar nicht unmittelbar durch das nächste – aber sie suchen und streben weiter. Sie sind schwer zu fassen, sind weder Realisten noch Opportunisten, Hedonisten, Nihilisten oder Eskapisten. Sie sind kaum zu beschreibende chinesische Idealisten.
    So ist China auch mehr als sechzig Jahre nach Gründung der Volksrepublik noch immer eine Hochburg der Idealisten. Ihr Anteil an der Bevölkerung mag klein sein, aber der Größe der Bevölkerung wegen ist ihre absolute Zahl gewaltig.
    All die eingesperrten oder unter Überwachung stehenden Anwälte, Dissidenten, Aktivisten, Vertreter von Bürgerinitiativen, Parteigründer, in der Öffentlichkeit stehenden Intellektuellen, Whistleblower und Missionare der Untergrundkirchen – sie alle sind hoffnungslose Idealisten. Gewissermaßen Idealisten 2.0.
    Jede Gesellschaft braucht Idealisten. Das China von heute ganz besonders!
    Sicher, verglichen mit den Idealisten bringt das heutige China weitaus mehr Realisten, Opportunisten, Hedonisten, Nihilisten und Eskapisten hervor. Viele Menschen fühlen sich in diesen prosperierenden Zeiten mit neunzigprozentiger Freiheit wohl wie ein Fisch im Wasser, viele machen ihr Glück und lassen es sich so richtig gut gehen. Wenn jemand jetzt noch aus einer mächtigen Familie mit Einfluss auf Partei und Regierung stammt, ein aufrechter roter Sprössling mit festen Wurzeln, dann kann man ihm nur gratulieren, denn er genießt einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil: Immense Ressourcen warten nur darauf, mit ihm eine Verbindung einzugehen. Sofern es in China noch Adlige gibt, dann ist er einer von ihnen. Die Kommunistische Partei, die gerne ewig an der Macht bleiben will, sieht ihn als einen der ihren – als einen, dem sie vertrauen kann. Wei Guo, Wen Lan und Bancuntou, der Rasenmäherkopf, gehören in diesen inner circle. Ganz offensichtlich sind Leute wie sie die Protagonisten des Goldenen Zeitalters, die Profiteure des chinesischen Modells. Sie haben Großes vor sich – ein pralles, buntes Leben wartet auf sie. Vielleicht ist das einfach Chinas Schicksal.
***
    Zurück zu Fang Caodi und Wei Xihong. Es ist keine Überraschung, dass die beiden sich vom ersten Moment an ausgezeichnet verstanden. Sie bedauerten lediglich, dass sie sich nicht schon früher kennengelernt hatten. Sie hatten so viele gemeinsame Themen und Erfahrungen und – was sie besonders verband: Beide hatten zwei Jahre lang wie besessen nach Ihresgleichen gesucht und nun endlich in einander den Beweis gefunden, dass es auf ihrem Weg doch Mitstreiter gab.
    Als Chen sie einander vorstellte, sahen sie auf den ersten Blick, dass sie vom selben Schlag waren. Schnell vertieften sie sich in ein Gespräch über die Frage, warum die Menschen um sie herum von einer nicht genau festzumachenden Glückseligkeit befallen schienen, einer Art mildem High, während sie selbst in einsamer Klarheit verharrten. Fang Caodi erzählte, dass die amerikanische Food and Drug Administration im Jahr 2009 davor gewarnt hatte, dass die Antiasthmatika Singulair, Accolate und Zileuton Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzustände und sogar suizidale Tendenzen hervorrufen konnten. Vielleicht gab es ähnliche Nebenwirkungen auch bei chinesischen Asthmamitteln. Wer sie einnahm, wurde nicht so leicht high wie die anderen und war deshalb klarer im Kopf. Xiaoxi wandte ein, dass Antidepressiva dann jedoch die entgegengesetzte Wirkung haben müssten, da sie die Dopamin- und Noradrenalin-Ausschüttung im Großhirn anregten und dadurch stimmungsaufhellend wirkten. Sie selbst dürfte also eigentlich nicht so völlig unempfänglich für den allgemeinen Glücksrausch ringsum sein. Sie hatte einmal in der Zeitung gelesen, dass Psychopharmaka in den USA inzwischen die meistverschriebenen Präparate überhaupt waren, noch vor Mitteln zur Blutdrucksenkung. Wenn man die rezeptfreien Präparate hinzuzählte, dann waren Psychopharmaka die am häufigsten eingenommenen Medikamente in den USA. Viele Amerikaner steckten nicht wirklich in einer tiefen pathologischen Depression, sondern waren nur verstimmt, fühlten sich er­schöpft oder unmotiviert und griffen deshalb zur Pille. Xiaoxi fragte sich, ob vielleicht auch in China eine große Zahl von Menschen solche Mittel nahm und

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