Die fetten Jahre
nicht in Frage. Das ist die Kernvereinbarung dieses Bundes.«
Xiaoxi, Fang Caodi und Zhang Dou schwiegen.
»Ihr habt vorhin eingewilligt, mir in allem zu folgen, auch dann, wenn ich etwas von euch verlange, das euch nicht gefällt. War es nicht so?«
Jetzt nickten die drei.
»Worauf warten wir noch?«, schaltete sich He Dongsheng ein. »Wenn wir nicht bald loslegen, wird es hell, bevor wir überhaupt angefangen haben!«
Leviathan ist da
Im offiziellen Diskurs der letzten zwanzig Jahre wurde das Jahr 1989 so gut nie erwähnt. So, als könne man es durch Schweigen ungeschehen machen. Um Ärger aus dem Weg zu gehen, mied man es auch im gesellschaftlichen Diskurs, und wenn an die Achtziger zurückerinnert wurde, dann hörte dieses Jahrzehnt stets abrupt Ende ’88 auf. Belustigt sagen daher viele, in China sei nach 1988 gleich 1990 gekommen.
Kann ein ganzes Jahr einfach verschwinden? Für manche ist es eine auf ewig ins Gedächtnis eingebrannte Erinnerung, so wie es der Titel eines vom Hongkonger Journalistenverband herausgegebenen Buches verkündet, das an den 4. Juni 1989 erinnert: Das Volk wird nicht vergessen. Aber tut es das wirklich nicht? Was den allergrößten Teil der jungen Leute auf dem Festland angeht, so sind diese Ereignisse niemals in ihr Bewusstsein gedrungen. Sie sind noch nie mit Bildern oder Berichten darüber konfrontiert worden, und von ihren Familien, Freunden und Lehrern haben sie erst recht nichts erfahren. Sie haben nicht vergessen – sie haben nie etwas gewusst. Es ist also theoretisch durchaus möglich, dass – genug zeitliche Distanz vorausgesetzt – ein ganzes Jahr verschwindet, weil alle es totschweigen.
***
2009 jährte sich die Vierte-Mai-Bewegung zum neunzigsten, die Gründung der Volksrepublik durch die KP zum sechzigsten, die Flucht des Dalai Lama zum fünfzigsten, die Ereignisse auf dem Tian’anmen-Platz zum zwanzigsten und der Beginn der Unterdrückung der Falun-Gong-Bewegung zum zehnten Mal. In China nannte man das 96521, und es sorgte allseits für große Anspannung. Daher sagten einige scherzhaft, in Zukunft solle man das letzte Jahr eines Jahrzehnts grundsätzlich einfach überspringen – als nächstes würde 2020 dann einfach vorgezogen und käme gleich nach 2018.
Für die Generation der Partei- und Staatslenker, zu der He Dongsheng gehörte, spielte der 4. Juni 1989 allerdings ohnehin kaum noch eine Rolle. Sie waren allesamt erst ab Mitte der neunziger Jahre ins Zentrum der Macht vorgerückt, die »Ursünde« von 1989 lastete nicht auf ihnen. In der Rückschau war auch 2009 glimpflich verlaufen; 2008 waren wesentlich heftigere Wellen hochgeschlagen.
Als sich dann aber die außenpolitischen Verhältnisse rasant veränderten und die Weltwirtschaft in die Feuer-und-Eis-Periode eintrat, drohten in China jahrelang unterdrückte Konflikte überzukochen. Hinzu kam, dass damals ein Wechsel in der Führungsriege der Partei kurz bevorstand. Es war ihre größte Belastungsprobe.
Seit 2008 gab es eine Kette größerer Vorkommnisse, angefangen mit Weng’an in Guizhou bis hin zu Shishou und der Sache mit der Stahlfabrik in Tonghua, beides in Hubei, die He Dong-sheng verdeutlicht hatten, wie verletzlich die Lokalverwaltungen waren, wenn sie es mit solchen Massenereignissen zu tun bekamen – wie in Weng’an, wo die Bereitschaftspolizei Schlagstöcke und Schilde weggeworfen und die Flucht ergriffen hatte; oder in der Stahlfabrik, wo sie beinahe massiv gegen protestierende Arbeiter vorgegangen wäre. Wenn ausgerechnet die Kommunistische Partei Arbeiter unterdrückte, was – oder wer – legitimierte dann noch ihre Herrschaft?
Nach diesen Ereignissen war He Dongsheng Teil einer kleinen Geheimgruppierung innerhalb der Partei geworden, die Gegenmaßnahmen ersann. In Planspielen simulierten sie mögliche Reaktionen auf zu befürchtende großflächige Unruhen. Ab-schließend legten sie mehrere Alternativen vor, über die die Parteispitze in mehreren Sitzungen mit Armee, Polizei und Militärpolizei beriet. Schließlich wurde eine Entscheidung gefällt und sämtliche Parteisekretäre der Kreisebene und Funktionäre der lokalen Sicherheitsbehörden zu Intensivtrainings nach Peking beordert.
Schon früh sah He Dongsheng sichere Anzeichen dafür, dass die Weltwirtschaft erneut auf eine Krise noch gewaltigeren Ausmaßes als 2008 zusteuerte. Aber wenn die Regierung nur richtig damit umging, so dachte er, war dies die perfekte Gelegenheit, einige bislang nicht zu lösende Probleme Chinas
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