Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
der Brücke vorüber und wurden von der Dunkelheit verschluckt.
97
Sofia hatte das Kruzifix von der Zellenwand nehmen können und begonnen, wie mit einem Hammer damit gegen die Tür zu schlagen. Dabei schrie sie, das Gesicht dicht an den Türspalt gepresst. Es waren keine Beleidigungen, denn ihre Schreie bestanden nicht aus Sätzen. Es waren Klageschreie, und dabei hämmerte sie mit dem Christus gegen das Eisen. Seit Stundenging das schon so, und aus den Nachbarzellen ertönten ebenfalls Schreie, wütende, verzweifelte Beschimpfungen.
»Ruhe!«, »Still!«, »Hexe, räudige Hündin!«, schrien die im Untergeschoss von San Servolo eingeschlossenen Frauen. Sie verstummten erst, als von der Treppe zum Garten nicht mehr nur die Tramontanaböen, sondern Schritte zu hören waren und ein Lichtschein die Steine mit Schatten und Reflexen färbte. Die Kapuze des Skapuliers auf dem Kopf, das Kruzifix in einer Hand, kam die Äbtissin, gefolgt von zwei Nonnen mit Laternen, auf dem ersten Treppenabsatz um die Ecke. Die Mienen der Frauen waren angespannt. Sie hielten kurze Stöcke in der Hand. Mit schnellen Schritten gingen sie durch den Korridor und blieben vor der letzten Zelle stehen. Eine der Ordensfrauen steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Sofia hörte auf zu hämmern und zu schreien. Die drei gingen hinein. Kein Wort fiel. Nur die Geräusche eines Handgemenges, dumpfe Schläge. Dann nichts mehr.
98
Granzo war kurz vor Sonnenaufgang geflohen, als sie gerade die Brücke über die Fossa Bandezza überquert hatten. Es war leicht gewesen, die beiden Mönche zu täuschen. »Ich muss ein großes Geschäft machen!«, hatte er gerufen, und sie hatten ihn zum Kanal hinuntergehen lassen, wo er sich im Röhricht verstecken konnte. Wie eine Schlange war er zwischen dem Schilfrohr davongeschlichen. Dann war er zum Hasen geworden und eine gute Stunde am Ufer entlanggelaufen. Erschöpft und frei kam er in Lendenara an, etwa neun Meilen westlich von Rovigo. Vor den Mauern fand ein Markt statt. Er schaute sich eine Vorführung mit einem tanzenden Bären an, dann bekam er Hunger nach dem langen Lauf und mit all den schönen Sachen auf den Marktkarren. Und da sagten die Leute, es herrsche Hungersnot.Von wegen Hungersnot. Er entdeckte einen Stand mit Käse. Der Käse aus Piacenza hatte es ihm besonders angetan. Die Alte zu übertölpeln, die Ecken aus den Laiben schnitt und sie der Größe nach ordnete, war sicher eine Kleinigkeit. Und er tat, was er schon immer aus Not getan hatte. Er ging an den Stand, streckte seine langen Krebsarme aus, griff mit der rechten Hand nach einem Stück, um es zu probieren, und schob währenddessen mit der an den Bauch gepressten Linken eine schöne Ecke in den Ärmel seiner Kutte.
»Du diebischer Mönch!«, schrie die Alte sofort, denn sie war durchaus nicht dumm. Den Schrei hörten zwei Sbirren, die Granzo wegen der Menschenmenge um den Tanzbären nicht gesehen hatte. Den Käse zurückgeben und weinend um Vergebung bitten funktionierte auf Märkten und Messen nicht, denn reumütige Diebe sah man hier viele jeden Tag, also fing er an zu laufen, so schnell er konnte, um möglichst viel Wegs zwischen sich, die Käsefrau und die Sbirren zu legen. Wegen eines Stücks Käse würden sie sicher nicht auf ihn schießen. Aber genau das taten die Verfluchten, kaum dass sie aus dem Markt heraus waren. Granzo hörte die Schüsse und das Pfeifen der Bleikugeln, die sausend die feuchte Luft durchschnitten. Er machte zwanzig große Sprünge und schien zu fliegen. Da war ein Wäldchen aus Weißdorn, er schlüpfte hinein. Lief mindestens noch eine Meile weiter. Dann beschloss er, dass er die beiden abgehängt hatte. Er lachte keuchend und biss in den Käse.
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Bei Tagesanbruch hatte sich ein Laken aus grauem Nebel über die Stadt gesenkt, das lang anhaltenden Nieselregen und bleiernes Wetter ankündigte. Die Dogengondel fuhr von einer brìcola zur anderen, der Ruderer am Heck erhöhte oder verringerte die Anzahl der Schläge, um das Boot auf Kurs zu halten, undder Ruderer am Bug ruderte schwach, er schob mehr, als dass er steuerte und rief bei jedem fünften Ruderschlag: »Ohe! Ohe!« Im Canale del Lazzaretto herrschte viel Verkehr, den Bug entgegenkommender Boote sah man erst im letzten Moment, und das undurchdringliche Grau war durchsetzt mit den Rufen der Bootsführer.
Andrea, der eingezwängt zwischen dem Avogador Francesco Pisani und dem Provveditore für die Klöster, Bembo, unter dem Zelt saß,
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