Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
und Gabriele Ruis, den Aufenthalt in der Einsiedelei in den Bergen von Padua. Verschwiegen hatte er nur die brüderliche Freundschaft zwischen Dragan und dem Abt der Einsiedelei und den Schutz, den die Mönche ihnen gewährt hatten.
Für den Stadtvikar von Rovigo, Zuànbattista Iancarli, war Granzos Geständnis ein wahres Himmelsgeschenk, denn der Steckbrief mit dem Haftbefehl und dem Kopfgeld von tausend Dukaten für die drei Flüchtigen war just am Vortage durch seine Hände gegangen. Einen der drei Gesuchten bereits geschnappt zu haben konnte eine Belobigung und vielleicht sogar eine Belohnung bedeuten. Wenn es ihm dann auch noch gelang, die anderen beiden zu fassen, würde er gewiss auf einen weit angeseheneren Posten als den des Stadtvikars hoffen können. Beflügelt von diesen Aussichten, hatte er sofort einen Boten mit der guten Nachricht nach Venedig geschickt, hatte, alle Vorsicht wegen eines möglichen Konflikts um territoriale Ansprüche außer Acht lassend, eine halbe Garnison mobilisiert, Granzo auf einen Karren geladen und sich persönlich in die Euganeischen Hügel bei Padua begeben.
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Sofia war gleich nach dem Essen, das in der Mensa des Gästehauses eingenommen wurde, in Gabrieles Armen eingeschlafen. Der Bruder Pförtner hatte das Problem einer Frau innerhalbder Klostermauern angesprochen, und der Abt hatte ihn, ausgleichend wie immer, daran erinnert, dass die zweite Regel des Benedikt gebot, alle Menschen gleich zu behandeln, und die dreiundfünfzigste Regel für Gäste des Klosters eine Aufnahme vorsah, wie sie Jesus Christus bekommen hätte, »denn wenn die Gäste Hilfe brauchen, soll man sie ihnen im Geist der Nächstenliebe geben«.
Gabriele war bei ihr, streichelte sie noch nach dem Läuten zum Avemaria, als die Sonne hinter den Bergen unterging. Es war das erste Mal, dass seine Mutter in seinen Armen schlief. Nicht einmal nach den härtesten Arbeitstagen im Arsenale hatte sie das getan. Nach dem Avemaria läutete es zur Komplet, während draußen die Nacht hereinbrach.
Im schwachen rötlichen Schein des Votivlichts ging Andrea mitten durch die Kirche, einen Schritt hinter Jacomo. Ihn in einen alten Mönch verwandelt zu sehen, nicht nur durch die Kutte, auch in seinen Bewegungen und seiner Sprechweise besänftigte nach und nach seinen Zorn, der sich in die resignierte Erkenntnis auflöste, dass man diesen eigenartigen Menschen meiden oder ihn akzeptieren musste, wie er war.
Jacomo leuchtete derweil mit der Laterne und öffnete eine kleine Tür, durch die man in den Glockenturm gelangte. Als Andrea ihn die steilen Stufen hinaufstürmen sah wie einen jungen Mann, verwandelte sich seine Resignation in Neugier, die alsbald, nach der Hälfte des Aufstiegs, in ein amüsiertes Wohlwollen überging.
»Da sind wir«, sagte Jacomo und blieb auf dem einzigen Treppenabsatz etwa zwanzig Fuß unterhalb des Glockenraums stehen. Auf dieser Galerie gab es außer der Treppe, die weiter nach oben führte, eine robuste Tür aus Holz und Metall, deren schwerer Riegel einer Gefängniszelle alle Ehre gemacht hätte. Jacomo steckte einen Schlüssel in das Schloss und drehte ihn mehrmals um.
»Ihr müsst wissen, dass kein Fremder dieses Zimmer jemals zu Gesicht bekommen hat«, sagte er. »Darum ist es ein großer Vertrauensbeweis. Ihr werdet hier eine Menge Dinge über die Macht erfahren, die Bücher haben.«
Andrea fand sich im Dachboden der Kirche wieder, einem großen dunklen Raum, wo es für einen solchen Ort ungewöhnlich warm war.
»Bleibt stehen.«
Andrea hob den Kopf, und was er sah, verursachte ihm einen Schwindel: über ihm gab es keine Decke, nur einen großen Ausschnitt des besternten Himmels, und trotz dieser Öffnung herrschte seltsamerweise eine Wärme wie in den Küchen des Dogenpalastes. Das weiße Licht der Laterne wurde rot, als Jacomo eine Glocke aus rotem Glas darüber stülpte. Jetzt war der ganze Raum in diese Farbe getaucht, und als Andrea sich umsah, staunte er abermals. Fenster gab es nicht, an den Wänden hingen große, über und über mit geheimnisvollen Zeichnungen und Zeichen bedeckte Blätter.
»Alles aus reinstem Cristalìn.« Jacomo zeigte auf die Decke, nahm einen Stock und klopfte zweimal an den Himmel. »Der stürmische Wind gestern Nacht hat die Luft so sauber gefegt, wie man es selten erlebt. Schön, nicht wahr?«
Andrea betrachtete nur in stummer Ehrfurcht den majestätischen Sternenhimmel.
»Die Mönche nennen diesen Raum den Kapitelsaal des Himmels. Sie haben
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