Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
des Palazzo. Neben der sechsten war sie die geräumigste Zelle im unteren Stockwerk. Wände und Boden waren mit Lärchenholztafeln verkleidet, durch den Gang wehte immer ein Luftzug, und sie grenzte an die Giardinidei Letterati. Auch war sie die trockenste und sauberste Zelle. Vor allem aber hatte man sie für die Ankunft eines so berühmten Gefangenen renoviert und möbliert. Eine große Öllampe erhellte und wärmte den Raum. Die Pritsche mit dem Strohlager und der Decke war durch ein richtiges Bett mit Matratze, Laken, Kissen und Decke ersetzt worden. In einem Winkel gab es hinter einem leuchtendroten Vorhang eine Art Waschraum mit einer Waschschüssel auf einem Gestell, einem Spiegel, einer großen Wanne und einem eleganten Abort in Form eines Schemels aus Holz und Kupfer. Gleich neben der Tür stand an der breitesten Wand ein Tischchen mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch befand sich alles, waszum Schreiben nötig war, dazu eine Bibel und drei philosophische Bücher, darunter auch Platons Der Staat .
Andrea ließ sich auf den Stuhl fallen. Außer den Geräuschen der Außenwelt drang auch der Geruch des Feuers herein, in dem die Bücher verbrannten. Seit Tagen arbeitete er an den Plädoyers für seine und Jacomo Dragans Verteidigung. Dass die Zehn den Prozess gegen den Glasmeister noch immer nicht eröffnet hatten, konnte man als ein gutes Zeichen deuten. Offensichtlich übte niemand erbitterten Druck auf die Ankläger aus. Und Francesco d’Angelo arbeitete fleißig mit ihm an der Verteidigung.
Das weit aufgerissene Auge Granzos erinnerte an die starren, schwarzen, leeren Augen manch großer Fische auf den Verkaufstischen des Marktes. Wenige Schritte von Andreas Zelle entfernt, saß er in sich zusammengesunken auf einer Bank, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Obwohl er der Tür der Giardini zugewandt war, schielte sein aufgerissenes Auge nach links, als beobachtete er etwas, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.
Gegenstand dieses verstohlenen Spähens war Alfonso de Ulloa. Der Schriftsteller senkte eine brennende Kerze schräg über ein Blatt Papier, ließ zwei Wachstropfen darauf fallen und heftete das Papier an die Steinmauer des Gefängnisses, bevor das Wachs hart wurde.
»Auf, mein Sohn, erweise uns die Gunst und begebe dich an die schwierige Aufgabe, so wird dir auf ewig Ehre gebühren!«, rief er mit der Emphase des Dichters aus, der versucht, seine Oden auf die Freunde zu singen. Dann zog er eine kleine Münze hervor und zeigte sie dem Jungen. »Und diese kostbare Belohnung!«
Granzo drehte den Kopf in die Blickrichtung seines Auges und erstarrte vor Staunen, so dass sich sein Mund öffnete und ihm die Zunge heraushing wie den Hunden im Sommer. Nicht der Münze galt sein Staunen, sondern der zur Hälfte mit Zettelnbedeckten Wand, gut dreißig an der Zahl, jeder in der Mitte mit einem Vokal beschrieben.
A, E, I, O, U …
Neben diesem Wirrwarr aus Zeichen stand der Notar Bertoldi da Bassano mit einer kleinen Sanduhr, die die Viertelstunden anzeigte, und hielt sich bereit, sie umzudrehen, während hinter ihm der Literat Ziletti, der Buchhändler Rampazzetto und der Verleger Gabriel Giolito in stummer Erwartung wie Zuschauer beim Palio aufgereiht standen.
»Jetzt die Aufgabe, höre gut zu!«, hub de Ulloa wieder mit lauter Stimme an. »Während der Sand einmal hindurchläuft, musst du all diese durcheinander gewürfelten Vokale zu fünf Häuflein ordnen, so dass jedes A bei den As liegt, jedes E bei Es und so weiter, jeder bei seinesgleichen. Hast du verstanden?«
Granzo machte eine seltsame Grimasse, die eher von Langeweile als Verblüffung zeugte, und drehte sich zur Seite. Dort lag Jacomo Dragan auf seiner Pritsche und schien sich an dem literarischen Spiel nicht beteiligen zu wollen.
»Was soll ich bloß mit diesen Verrückten machen?«, flüsterte Granzo ihm bekümmert zu.
»Die Zügel schleifen lassen und vorangehen, wie man es bei Verrückten so macht«, antwortete Jacomo, ohne den Blick vom Kuppelgewölbe der Zelle zu lösen, »denn lesen und schreiben lernen wird dir gewiss nicht schaden.«
Der Junge dachte über den Rat nach, dann wandte er sich ergeben den Literaten zu und stand langsam auf.
»Ich bin bereit, Eccellenze«, sagte er.
Alfonso de Ulloa nickte nur stolz.
»Notaio, Ihr seid an der Reihe!«
Bertoldi drehte die Sanduhr um und rief aus: »Nur zu, mein Sohn, und mach dir alle Ehre, denn die Zeit rennt davon und nie gibt es genug!«
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Ermonia war beim Aufwachen sehr
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