Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
kalt, aber in ihrer Seele herrschte der Frieden des Menschen, der alles geordnet hat: die Bücher, das Glas, ihren Letzten Willen. Sie musste nur noch den Kopf auf das Kissen zurücklegen, um zu sterben. Es würde ein süßer Traum werden, eine wiedergefundene Umarmung. Sie dachte daran, dass sie die letzte Vivarini war, und empfand die Einsamkeit ihres Daseins.
»Pierin, bring mich nach draußen.«
»Draußen ist es kalt, Signora Maestra.«
»Bring mich nach draußen, sage ich dir.«
Sie schloss die Augen. Ihre Schwester Lucia spielte im Hof hinter der Brennerei. Sie war ein kleines Mädchen in einem fröhlichen Kleid, das sie oft getragen hatte. Ermonia erinnerte sich gut an dieses Kleidchen. Bei ihr war Lucrezia. Die beiden Freundinnen liefen über den Hof. Sie spielten ein Spiel, bei dem sie Minin, dem kleinen weißen Hund mit dichtem Fell, großen Augen und Ohren, den die Eltern Lucrezia geschenkt hatten, ein Stück Holz zuwarfen. Doch plötzlich wurde der Traum böse, denn das Stück Holz landete in Ermonias Händen. Alten Händen voller Falten, Narben und Flecken. Minin lief zu ihr und verlangte bellend, das Spiel fortzusetzen. Natürlich versuchte Ermonia, das Holz zu werfen, doch es wollte sich nicht aus ihren Fingern lösen, als wäre es mit Honig bestrichen. Lucia und Lucrezia wurden traurig.
In dieser mondlosen Nacht bestand der Himmel aus unzähligen Tropfen reinsten Cristalìn, die auf einem großen schwarzen Tuch verteilt waren. Sie versuchte, sich einen Begriff von diesem Himmel zu machen, und wollte die Sterne zählen. Es waren zu viele. Sie betrachtete die Milchstraße, eine lange Brücke, die hinter ihr begann und im Osten verschwamm. Sie dachte an die Nächte, in denen sie mit Lucia, Lucrezia, Jacomo und allen anderen den Himmel bewundert hatte. Sie suchtedas Sternbild des Großen Bären und fand an seinem Ende den Polarstern. Sie erkannte Dubhe und Merak, Mizar und Alioth. Viele der Namen, die sie gelernt hatte, während sie den Himmel durch das Sternenauge betrachtete, waren ihr im Gedächtnis geblieben. Es gelang ihr nicht, den Blick bis zu den Sternbildern des Löwen und der Jungfrau zu heben, aber die Zwillinge und den Stier konnte sie sehen. Sie wusste, dass dies alles unendliche Tiefen waren. Sie hatte sie gesehen. Und sie glaubte, dass dort oben am Ende von allem der Frieden war, den sie suchte. Sie dachte an die Weltseele, in die sie zurückkehrte. Also beschloss sie, sich zu beeilen und ließ die Decken zu Boden fallen. Sie spürte ihr Herz stolpern. Noch immer war ihr sehr kalt, aber sie hatte keine Schmerzen. Sie wollte gehen. Lucia und Lucrezia lächelten ihr zu.
LUFT
1
Murano, 6. Oktober 1571
Jacomo kannte die Stimme, den Geruch, den Körper und das empfindliche Naturell des Glases, das mal liebenswert, mal reizbar sein konnte. Er wusste, dass es den Wind fürchtete und unter dem Einfluss der Winde stand: die Bora härtete es, der Libeccio und der Grecale schwächten es, bei Mistral wurde es rau.
Der Schirokko, der es opak macht, wehte nun schon seit dem gestrigen Abend, die Müllabladeplätze stanken, und das Schild mit dem Drachen schaukelte bei jeder Böe. Es würde Hochwasser geben. Und Regen. An diesem Morgen war Jacomo wie jeden Morgen bei Tagesanbruch aus dem Kamaldulenserkloster San Mattia gekommen, wo er seit über einem Jahr in loco carceris lebte, hatte die hölzerne Brücke überquert, die das Inselchen mit Murano verband, und war, nachdem er sich ins Ausgangverzeichnis des Casónvon Santo Stefano eingetragen hatte, pünktlich in der Glashütte angelangt, die Ermonia ihm hinterlassen hatte.
Auf Ersuchen des Rats der Zehn hatte der Podestà von Murano, nachdem er die Meinung des Gastalden der Glasbläserzunft und aller Hüttenbesitzer eingeholt hatte, erlaubt, dass die Öfen, die am letzten Julitag für die Sommerpause erloschen, in diesem Jahr früher, nämlich am ersten Oktober, wieder angefacht wurden.
Der Geselle Pierin war immer der Erste, der in die Hütte kam und abends der Letzte, der ging. Er brachte Meister Jacomo eine Eisenstange, mit der er das Glas bearbeiten konnte, und öffnete eine Klappe des größten Schmelzofens. Jacomo tauchte die Stange in den Tiegel und zog einen Klumpen Glaspaste heraus. Er ließ das flüssige Glas an der Luft abtropfen, und aus dem hart werdenden Rinnsal entstand ein durchsichtiges Gebilde, dick wie der Stängel einer Margerite. Jacomo betrachtetees eingehend. Dann brachte er es mit Ermonias Silberstöckchen zum
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