Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Gefangenen!«, rief der Sekretär der Zehn, Zuàne Formento, laut in übertrieben würdevollem Ton, tief gebeugt und angewidert, als würde er einen Stollen der Kanalisation erforschen. Dann herrschte wieder Stille in der Zelle. Tomei spürte die Wärme, die von der Fackel ausging, und das war die einzig angenehme Empfindung seit vielen Stunden.
»Nun?«, schrie Formento.
Wieder verging ein Augenblick der Stille.
»Guten Abend, ehrwürdigster Signor Segretario …«, antwortete das Mönchlein mit weinerlicher Stimme.
»Nun?«, donnerte Formento zu Tomei gewandt, doch der Florentiner sah ihn nur mit herausfordernder Miene an. »Gut, sehr gut. Wir werden auch das berücksichtigen«, sagte der Sekretär verärgert, während er gebückt, fast kniend auf der Schwelle verharrte. »Welch ein unangenehmer Geruch hier drinnen«, dabei zog er ein Taschentuch aus dem Ärmel seiner Toga und hielt es sich unter die Nase. »Ich würde das alles gerne vermeiden, aber ihr zwingt mich ja dazu.« Er schien ehrlich betrübt. Dann wandte er sich zu dem Wächter um, der hinter ihm stand, und zeigte auf das Mönchlein. »Er«, sagte er durch die Nase, einen Schritt zur Seite tretend, um den Wächter vorbeizulassen.
Der Frate riss die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf, während er sich mit den Fersen am Boden abstieß, um noch tiefer in die Ecke hineinzukriechen. Der Wächter packte ihn am Arm und hob ihn fast vom Boden, als er ihn, nackt wie er war, nach draußen zerrte.
»Er hat nichts damit zu tun!«, schrie Tomei, sich auf den Kerkermeister stürzend. »Er weiß nichts!«, wiederholte er.
Der Stockhieb des Wächters traf ihn mitten auf die Brust undließ ihn röchelnd zusammensacken. Als er den Kopf hob, starrte Formento ihn böse an.
»Was weiß er nicht? Signor Tomei, sagt mir endlich, was Ihr verschweigt, und wir werden wieder Freunde. Beste Freunde.« Im Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck war der Tonfall des Sekretärs freundlich, betont ruhig. Tomei sah ihn nur keuchend an.
»Denkt nach, denkt gut nach.« Formento deutete eine Verbeugung an und drehte dem Florentiner den Rücken zu. Der Wächter warf die Holztür zu und schob den Riegel vor. Ihre Schritte entfernten sich. Tomei ließ sich auf das Stroh fallen, und der Pozzo versank wieder im roten, diffusen Halbdunkel der Hölle.
16
Als die Frau ihren Bericht beendete, hatte die Uhr von San Marco soeben zur dritten Nachtstunde geschlagen, und die Angst war Andrea schmerzhaft in die Nieren gefahren wie der Biss eines streunenden Hundes. Zu viele Dinge waren geschehen, um diese Reihe tragischer, außergewöhnlicher Unglücksfälle weiterhin dem Zufall zuzuschreiben. Die Ereignisse wirbelten in seinem Kopf, und er fühlte sich ohnmächtig inmitten dieses Strudels, wie der Schiffer an den Bocche di Malamocco, der Öffnung zur Lagune zwischen den Landzungen Lido und Pellestrina, wenn die ansteigende Flut sich mit dem Wind verbündet und große Strudel erzeugt, die die Boote mit sich reißen.
Wie jede Mutter es getan hätte, verteidigte Sofia den einzigen Sohn, der ihr geblieben war und der vielleicht die eine oder andere Ordnungswidrigkeit begangen hatte. Doch nach ihrer Rekonstruktion der Tatsachen war die Mordanklage gegen Gabriele Ruis vollkommen haltlos, oder schlimmer, irreführend.
Tatsächlich, um mit dem ersten Teil ihres Berichts zu beginnen, und diese Einzelheit wollte Andrea gleich am nächsten Morgen überprüfen, waren es nicht die Signori di Notte al Criminal gewesen, die Gabriele verhaftet hatten, sondern er selbst hatte sich beim casón von San Zuàne in Bragola, dem Gefängnis des Sestiere Castello, in ihre Hände begeben. Er hatte sogar das Beutegut zurückerstattet: einen goldenen Hostienkelch, ein Kruzifix und zwei silberne Kandelaber.
Die Unterschiede im Strafmaß waren beträchtlich, denn auf vorsätzlichen Mord stand die Todesstrafe oder lebenslanger Kerker. Für Kirchenraub wurde man auf Lebenszeit aus Venedig verbannt oder bekam fünf Jahre Galeere. Bei Gabriele kam erschwerend der Brudermord hinzu. Günstig war sein Alter zur Tatzeit: noch nicht vierzehn, also ein pupillo , der strafrechtlich nicht wie ein erwachsener Angeklagter behandelt werden durfte. Doch gerade hier lag einer der entscheidenden Punkte, denn der Junge hatte die schicksalhafte Altersgrenze während der Zeit seiner Flucht überschritten, und da das Verbrechen noch nicht aufgeklärt war, hatten die Richter ihn in Erwartung eines Urteils wie einen beliebigen
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