Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
geständigen Täter einsperren lassen.
Sollte er des Mordes schuldig sein, erschien es tatsächlich unerklärlich, wieso der Junge sich gestellt hatte und dafür aus Guastalla jenseits des Pos, einem ausländischen Staat unter der Herrschaft der Gonzaga, wo er praktisch in Sicherheit war, zurückgekehrt war. Dort hätten ihm nur irgendwelche Kopfgeldjäger oder vom Rat der Zehn geschickte Häscher gefährlich werden können. Doch angesichts der herrschenden Geldnot hätte die Serenissima gewiss kein Lösegeld auf den Kopf eines dummen Jungen ausgesetzt.
Und dann der Rest des Berichts. Alles musste überprüft werden, natürlich, doch genau das wäre der Sinn der Ermittlungen, denn diese verfluchte Geschichte hatte viele Tage vor der Explosion des Arsenale begonnen, Ende August, als Gabriele in den seltsamen Vorschlag eingewilligt hatte, den ihm ein Fremder unten an der Riva degli Schiavoni gemacht hatte.
Es war an einem Sonntag geschehen, etwa um die Mittagszeit. Seit das Meer sich seinen Vater geholt hatte, einen erfahrenen Matrosen, der südlich von Candia bei einem Schiffbruch ertrunken war, ging Gabriele manchmal, vor allem an Festtagen, wenn die Albaner und Dalmatiner ihm weniger Konkurrenz machten, zu den Anlegern im Castello-Viertel hinunter, um sich beim Ausladen der Schiffe ein paar Soldi zu verdienen. Als er dort gerade Baumwollballen aufhob und weiterreichte, war dieser Mensch auf ihn zugekommen. Der Mann sprach Venezianisch mit einem merkwürdigen Akzent, sagte, er komme aus Mestre und sei ein Pilger auf der Reise ins Heilige Land. Wenige Worte, keine persönliche Vorstellung. Das Versprechen von zwei Golddukaten, einen sofort, den anderen nach getaner Arbeit. Die sei ohne jedes Risiko, wie einem greisen, tauben Wucherer Kirschen stehlen. Ein Kinderspiel. Er sollte beim Rio dell’Arsenale über die Mauer der Celestia springen, wenn zur Komplet geläutet wurde, durch den Orangenhain bis zu dem einzeln stehenden Baum gehen, einem großen Bovolario, aus dessen biegsamen Zweigen die Zeltaufbauten der Gondeln gemacht werden, dort in einem Hohlraum eine Botschaft hinterlegen und eine andere mitnehmen. Das Spiel würde sich ein paar Mal wiederholen. Das war alles.
Gabriele hatte sofort eingewilligt, denn sie litten Not, und so leicht so viel Geld zu verdienen erschien ihm wie ein Zauber. Ein Händedruck, und er ging glücklich davon. Noch am selben Abend hatte er die erste Botschaft gebracht und in der Osteria del Sartòr zusammen mit seinem Bruder Tonino und Granzo, seinem besten Freund, den ersten Dukaten für Essen und Trinken ausgegeben. Mit dem Rest hatten sie sich alle drei einen Handdienst von Claretta machen lassen, der hinkenden Hure von Castelletto. Die letzten zehn Soldi hatte Gabriele beim Kartenspiel verloren. Aber das war in Ordnung so: Wenn er Geld hatte, verstand er es auszugeben und zu verlieren. Außerdem war ja noch ein zweiter Dukaten im Spiel.
Eine Woche später, gleiche Zeit, gleicher Weg, die gleichen Sprünge, hatte er wieder eine Nachricht abgeholt und gebracht. Der Mann erwartete ihn pünktlich und schweigsam am Ufer der Celestia. Die Botschaft, die Gabriele ihm brachte, überflog er rasch in dessen Gegenwart. Diese Vertraulichkeit nutzend, bat Gabriele ihn um einen Vorschuss. Und der Mann war großzügig, gab ihm einen halben Dukaten. Das nächste Treffen sollte am dreizehnten September stattfinden.
Am Abend jenes schicksalhaften Tages waren Gabriele, sein Bruder Tonino und Granzo in die Osteria delle Tre Rose in San Paternian gegangen. Sie hatten reichlich Wein getrunken, ein Wort gab das andere, und Gabriele hatte die Geschichte von den Botschaften erzählt. Also sprang an diesem Abend Tonino über die Mauer, weil er der Nüchternste war. Gabriele und Granzo wollten vor der Mauer auf ihn warten und schliefen fast sofort ein. Dann hatte es die erste Explosion gegeben, der Himmel erstrahlte hell, und die Pforten der Hölle hatten sich aufgetan. Zuerst war es Gabriele wie ein Albtraum erschienen, wegen des Weins. Doch dieser Traum war glühend heiß, und alles, wirklich alles kam vom Himmel herunter, wie in der Bibel geschrieben steht, wenn der Tempel einstürzt und in der Mitte zerbirst. Steine, Staub und Feuer vom Himmel, und er wusste nicht, was geschehen war. In all dieser Verheerung ringsum hatte er begonnen, nach seinem Bruder zu rufen. Er weinte und rief: »Tonino! Tonino!« Er dachte, der Bruder wäre tot, alle wären tot, er auch. Es gab keine Mauern mehr, über die man
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