Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
unglückliche Schwester fortbrachte, viele hielten eine Kerze und mussten die Flamme schützen, die der Wind vom Docht reißen wollte. In diesen zuckenden Lichtreflexen, die sich mit dem Mondlicht vereinigten, beobachtete Andrea die Nonnen. Zwei Novizinnen hielten sich an der Hand, eine junge Nonne stützte eine betagte Schwester. Wenn man sie so sah, in diesem Nimbus von Heiligkeit, wurden die Geschichten, die über die Celestia kursierten, zur blasphemischen Verleumdung. Skandale hatte es freilich viele gegeben, seit dem vergangenen Jahrhundert, als Papst Eugenius IV. dem Bischof Giustiniani und dem apostolischen Protonotar Dandalo die moralische Aufsicht über das Kloster anvertraute. Wenig hatte sich seither geändert, denn immer noch prahlten junge venezianische Patrizier mit ihren amourösen Eroberungen in Klöstern. Mehr als ein Kind war aus diesen Begegnungen hervorgegangen.
Auf den Booten wurden die trapezförmigen, rostroten Segel gehisst, die Fischer regulierten die Schoten und riefen sich Abschiedsworte zu. Ein Boot drehte mit dem Heck in den Wind und nahm Kurs auf Chioggia, das andere mit der Toten an Bord scherte langsam nach links aus und glitt mit seitlichem Wind im Mondlicht parallel zum Ufer auf San Giorgio und dann auf das Viertel Castello zu. Es war wie bei einer Beerdigung, die Nonnen begannen, am Ufer neben dem Boot herzulaufen bis zum äußersten Punkt des Rio della Croce, wo der Wind sich fing und stärker wurde. Die Kerzen erloschen, und die Nonnen drängten sich auf diesem letzten Zipfel Strand, ein dunkles Häufchen im Mondlicht. Da erhob sich, hell und laut, das Stabat Mater in der Dunkelheit. In diesen Gesang fielen die wenigen verbliebenen Servitenpatres ein: » Stabat Mater dolorosa iuxta Crucem lacrimosa dum pendebat Filius .«
Unwillkürlich nahm Andrea in Gedanken die folgende Terzine vorweg: Cuius animam gementem contristatam et dolentem pertransivit gladius . Er dachte an seine Mutter und fühlte, wie Rührung ihm die Kehle verschloss, während ihm ihr von Lotto gemaltes Porträt vor Augen stand. Sein Vater hatte es an der hellsten Stelle des Empfangssaals im ersten Stock ihres Hauses am Campo San Pantaleone auf eine Staffelei stellen lassen. Eswar so postiert, dass die Sonnenstrahlen, die von Mittag bis Sonnenuntergang durch die große Fensterfront fielen, es mit einem diffusen Licht umgaben, wenn sie von den mit gelber Seide bespannten Wänden zurückgeworfen wurden. Immer wenn Andrea seiner Mutter ein Gesicht geben wollte, dachte er an dieses Gemälde. Lucrezia war schön gewesen, und Andrea, wenigstens sagten das alle, hatte ihre Züge und die feine Melancholie des Ausdrucks geerbt. Auf dem Gemälde hatte Lotto sie, wie aus Bosheit, mit einem unmerklichen Lächeln porträtiert, das von den blauen, eindringlichen Augen auszugehen schien, um auf ihren Lippen zu erlöschen. Der Betrachter wurde dadurch in einen unerträglichen Erwartungszustand versetzt. Schon als Kind hatte Andrea immer gehofft und gebetet, dieser starre Ausdruck möge sich zu einem vollen Lächeln entwickeln, das nur ihm galt. Vielleicht hatte er sich auch darum mit Taddea verbunden, deren Ähnlichkeit mit seiner Mutter so stark war, dass sein Vater bei ihrem Anblick oft in Rührung geriet. Die Sehnsucht versetzte Andrea einen Stich ins Herz, während draußen auf dem Wasser die Bootslaterne, das Schlingern des Schiffes auf der Welle des Canale della Grazia anzeigend, so heftig zu schaukeln begann, dass sie wie ein Leuchtsignal immer wieder hinter den Segeln verschwand.
»Andrea …«
Er drehte sich zu der Stimme um. Eine dunkle Gestalt kam auf ihn zu, sie hielt eine Leuchte in Höhe der Brust, und ein paar Strahlen, die von unten ihr Gesicht trafen, verzerrten die Züge so grässlich, dass Andrea den Mann nur an seiner Stimme erkannte.
»Alles, was wir tun konnten, wurde getan«, sagte Zuàne Formento. »Armes Mädchen, morgen schicke ich einen Boten nach Ponte Nossa zu ihrer Familie.«
Andrea roch den schweren Atem des Sekretärs, der nur einen Schritt vor ihm stehen geblieben war: eine Mischung aus Knoblauch, Fleisch und vor kurzem genossenem Malvasier. Er wichein wenig zurück, damit die nächste Schwade sich in der Luft verdünnte.
»Was habt Ihr über die Novizin herausfinden können?«, fragte Andrea, um ein Gespräch in Gang zu setzen, das er nach seinen Vorstellungen lenken wollte.
»Wenig … Sie gehört zu einem Zweig der Tagliapietra, der nach Bergamo gezogen ist. Wohlhabende Leute, ihr
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