Die Feuer von Troia
daß sie Kinder ohne große Schmerzen bekommt. Und da wir gerade von Kindern reden … Habe ich bei der Frühjahrs’aussaat Oenone und ihren Sohn gesehen?«
»Das hast du und ich auch«, bestätigte Kassandra, »sie ist gekommen, um Paris zu sehen. Ich fürchte, sie liebt ihn immer noch.«
»Da hat sie aber auch etwas davon!« rief Andromache.
Eine Dienerin brachte das Abendessen. Als sie sich zurückgezogen hatte, sagte Kassandra: »Oenone war meine Freundin. Ich fühle mich schuldig, weil ich nichts dagegen tun kann, daß ich Helena mag. Und jetzt vergißt Paris sogar, daß er einen Sohn von Oenone hat.«
»Ich glaube, jeder mag Helena«, sagte Andromache, »selbst Priamos ist immer zuvorkommend zu ihr, obwohl er die Verführungskünste der Frauen sehr gut durchschaut und sich nicht leicht betören läßt. Und Paris - nun ja, was kannst du anderes erwarten? Wenn du die Göttin der Liebe im Bett hättest, würdest du dich dann der Priesterin irgendeines Flußgottes zuwenden? Und was würde die Göttin in einem solchen Fall mit dir tun?«
Kassandra erschauerte. »lch mag diese achaische Göttin nicht«, gab sie zu, »ich hoffe, SIE will nie etwas von mir.«
Andromache sagte sehr ernst: »Das würde ich dir nicht wünschen. Ich fände es schade, mir vorzustellen, daß du nie erleben solltest, was Liebe ist.«
»Wieso glaubst du, ich wüßte das nicht?« fragte Kassandra neugierig. »Ich liebe meine Brüder und meine Mutter, meine Schlangen, meinen Gott… «
Andromache lächelte leicht wehmütig.
»lch habe Glück«, sagte sie, »ich liebe den Mann, dem man mich gegeben hat. Ich kann mir nicht vorstellen, einen anderen zu lieben. Aus den wenigen Gesprächen mit Helena weiß ich, daß es bei ihr genauso war, bis die Göttin die Hand auf sie legte. Von diesem Augenblick an konnte sie nur noch an Paris denken.«
»Dann ist eine solche Liebe doch ein Fluch und kein Geschenk«, sagte Kassandra, »und ich bete darum, daß ich davon verschont bleibe.«
Andromache umarmte sie zärtlich und sagte: »Sieh dich vor, worum du betest, Kassandra. Ich wollte Kolchis verlassen und einen ruhmreichen Helden zum Mann haben. Dieses Gebet hat mich hierhergebracht. Ich bin fern von meiner Mutter und meinen Göttern und lebe in diesen schweren Zeiten in einer Stadt am Rand der Welt.« Sie nahm etwas Salz, das neben dem Fleisch auf der Platte lag, warf es in die Luft und flüsterte ein Wort, das Kassandra nicht verstand. Kassandra schnitt sich eine dünne Scheibe von dem gebratenen Fleisch ab, legte es auf ein Stück Brot und zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Ich habe darum gebetet«, sagte Andromache, »daß deine Gebete nur in der Weise erhört werden, wie du es möchtest.«
Kassandra umarmte ihre Freundin und sagte: »Ich weiß nicht, ob die Götter solche Bitten erfüllen - aber ich bin dir dankbar.«
Nach dem Abendessen half sie Andromache, Astyanax zu Bett zu bringen, und verließ dann den Palast. Sie schlenderte zwischen den schwach erleuchteten Ständen über den abendlichen Markt, und dabei fiel ihr ein, daß sie Andromache hatte fragen wollen, was es bedeuten könne, wenn die Schlangen einen Tempel verließen. Dann erinnerte sie sich daran, daß Andromache nichts mit Schlangen zu tun haben wollte.
Sie beschloß, alle Priesterinnen, die sie finden konnte, zu fragen, ob sie eine Schlangenmeisterin oder einen Schlangenmeister, eine Priesterin oder einen Priester der Schlangenmutter oder der Python kannten, ehe sie auch nur eine einzige Schlange für den Tempel des Sonnengottes kaufte. Irgendwo in dieser großen Stadt mußte jemand leben, der dieses Wissen besaß.
11
Nach dem Überfall bei der Frühjahrs’aussaat war Khryse in tiefe Niedergeschlagenheit gefallen. Er vernachlässigte seine Pflichten im Tempel und stand oft und lange auf der hohen Ringmauer. Von dort überblickte man am besten das Lager der Achaier. »Bitte geh und sag ihm, er soll herunterkommen«, bat Charis Kassandra, »er mag dich. Vielleicht kannst du ihn davon überzeugen, daß das Leben nicht zu Ende ist.«
»Er mag mich nicht«, widersprach Kassandra. Aber sie empfand Mitleid mit dem leidenden Mann, und einige Zeit später stieg sie zu Khryse hinauf.
»Das Abendessen ist fertig«, sagte Kassandra, »die anderen warten auf dich.«
»Danke, Kassandra, aber ich habe keinen Hunger«, erwiderte er.
Seit dem Überfall hatte er sich nicht mehr gewaschen und rasiert. Er wirkte ungepflegt und schmutzig und roch nach fremdartigen Kräutern.
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