Die Feuer von Troia
»Wie kann ich ruhig essen und schlafen, wenn mir mein Kind genommen worden ist? Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß mein armes kleines Mädchen dort unten bei diesen barbarischen Soldaten ist.«
»Du besserst ihr Los nicht dadurch, daß du fastest und dich vernachlässigst«, erklärte Kassandra sachlich, »oder glaubst du, die Achaier lassen sich erweichen, wenn sie dich in diesem Zustand sehen?«
»Nein, aber vielleicht läßt sich ein Gott erweichen«, sagte er. Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme überraschte Kassandra.
»Glaubst du das wirklich?«
»Vielleicht nicht«, sagte er und seufzte so schwer, daß sich der Laut den Tiefen seiner Seele zu entringen schien. »Aber mir steht der Sinn nicht nach Essen oder Schlafen, solange sie dort unten ist. «
»Ganz bestimmt hat man sie nicht den Soldaten überlassen«, meinte Kassandra, »sie wird eine geschätzte Beute für einen der Führer sein - vielleicht sogar für Agamemnon.«
»Glaubst du, das ist mir ein Trost?« Er klang verzweifelt. Kassandra wollte versuchen, ihn zu trösten, aber vor ihren Augen stieg eine dunkle Woge auf, und einen Augenblick wußte sie nicht, wo sie war, oder was sie gesagt hatte.
»Warum habe ich ihre Jungfräulichkeit in all den Jahren so sorgsam behütet und sie dann hierhergebracht? Ebenso gut hätte ich sie an ein Bordell verkaufen können!«
Kassandra wurde ärgerlich.
»Du hast sie Apollon, dem Sonnengott, verkauft und dir damit ein bequemes Leben verschafft. Und deine Tochter… Wenn die Jungfräulichkeit nicht in der Seele wohnt, ist es nutzlos, den Körper zu behüten. Wenn du Apollons Schutz oder Rache suchst, kann ich dir keinen Rat geben. Ich kann nur sagen, es ist unwahrscheinlich, daß ER eingreift, nachdem du durch dein Verhalten für den Tempel wertlos geworden bist. Wenn du SEINE Hilfe willst - oder SEINE Gnade -, mußt du vor allen Dingen IHM dienen, wie es sich gehört. Ein Gott läßt nicht mit sich handeln. «
Sie blickte über die Mauer in den dichten Nebel, der die Schiffe der Achaier verbarg. Sie haßte es inzwischen, auf das Meer hinauszublicken, weil die dunklen Schiffe den Strand säumten. Khryse drehte sich so wütend nach ihr um, daß sie glaubte, er würde sie schlagen. Doch er nahm sich zusammen, und sie sah, daß er wieder in seine Teilnahmslosigkeit zurücksank.
»Du hast recht«, sagte er langsam, »ich werde am Abendessen teilnehmen - aber zuerst will ich mich waschen und umkleiden, damit ich wieder aussehe, wie es sich für einen Priester des Sonnengottes gehört. «
Sie nickte freundlich und sprach: »Das ist klug, mein Bruder«, und sah etwas in seinen Augen aufleuchten, das sie lieber nicht gesehen hätte. Sie verwünschte ihre plötzliche mitleidige Regung und ging schnell davon.
Am nächsten Morgen klopfte es in aller Frühe an ihre Tür, und als sie öffnete, stand einer der jungen Priester draußen, die Botendienste im Tempel verrichteten.
»Bist du die Tochter des Priamos?« fragte er höflich. »Man erwartet dich an der Pforte. Dort ist ein Mann, der sagt, er sei dein Onkel und müsse dich sofort sprechen.«
Kassandra warf sich den Mantel über und überlegte, wer das sein könne. Sie kannte keinen der Brüder ihres Vaters, und Hekabe hatte keine. Zu spät kam ihr der Gedanke, es könne eine List sein, und als sie den Raum betrat und drei Männer in argivischen Umhängen sah, wich sie zurück und wollte um Hilfe rufen.
»Ich bin es, Kassandra«, sagte eine bekannte Stimme. Der Mann schob die Kapuze zurück, die sein Gesicht verbarg.
»Odysseus!« rief sie.
»Nicht so laut, Mädchen. Das kostet uns das Leben!« bat er. »Ich muß deinen Vater sprechen. Und in der jetzigen Lage konnte ich nicht bei den Achaiern landen und durch ihr Lager zum Stadttor gehen und um eine Unterredung bitten. Sie hätten mich umgebracht. Mein Schiff liegt in einer kleinen Bucht versteckt, die ich entdeckt habe, als ich bei den Seeräubern war. Ich bin gestern abend im Schutz des Nebels dort vor Anker gegangen. Ich muß mit Priamos sprechen und herausfinden, ob es noch einen ehrenhaften Weg gibt, diesen Krieg abzuwenden. Ich dachte, vielleicht lasse sich hier im Tempel eine Möglichkeit dazu schaffen.«
»Aber du kannst auch nicht einfach durch das Portal hinaus und hinunter in die Stadt gehen«, sagte Kassandra, »ich bin sicher, die Achaier haben ihre Augen und Ohren auf dem Markt und selbst hier im Haus des Sonnengottes - Pilger… als Gläubige verkleidete Kundschafter. Man würde
Weitere Kostenlose Bücher