Die Feuer von Troia
sichtbar werdenden Altersfalten in Hekabes Gesicht. Als sie sich eines Tages den Gemächern der Königin näherte, hörte sie erschrocken sich streitende Frauen. Die Worte verstand sie nicht, aber es waren unverkennbar zornige und wütende Frauenstimmen. Als sie den großen Raum mit dem Webstuhl betrat, hörte sie einen klatschenden Schlag, einen unterdrückten Aufschrei und Hekabes Ruf: »Niemals!«
»Dann«, erwiderte eine junge Frau, »werde ich ohne deine Erlaubnis gehen, Herrin, und auch ohne deinen Segen.«
Die Frauen verstummten, als sie Kassandra erkannten, und wichen zurück, um ihr Platz zu machen. Es sah so aus, als hätten sich alle Frauen aus dem Palast hier versammelt. Sie drängten sich um Hekabe, die ein altes Gewand trug und deren aufgesteckte graue Haare sich gelöst hatten und in wirren Strähnen herabhingen, und um eine ihrer Näherinnen. Kassandra kannte den Namen der jungen Frau nicht, hatte aber schon oft ihre schönen Arbeiten bewundert.
»Hier kommt die Prinzessin! Sie ist eine Priesterin und weiß bestimmt, was man ihr sagen muß.«
Kassandra trat in den Kreis der schweigenden Frauen.
»Was ist los, Mutter? Was ist geschehen?« fragte sie.
Die junge Frau mit der von der Ohrfeige geröteten Wange richtete sich stolz auf. Sie war hübsch und schlank, hatte weiche, braune Haare und war offenbar beim Frisieren unterbrochen worden. Die Locken hingen halb gelockt beinahe bis zur Hüfte. Sie sah Kassandra mit großen dunklen Augen unter langen Wimpern an.
»Der Gott hat zu mir gesprochen«, sagte sie, »und ich habe mich für meinen Herrn und Gebieter entschieden.«
»Das törichte Mädchen«, sagte Hekabe, »das dumme Kind hat sich in den Kopf gesetzt…, ich schäme mich beinahe, es dir zu sagen! Daß eine Frau sich so erniedrigen, so entwürdigen kann! Sie ist keine Dienerin und keine Sklavin, sondern von guter Herkunft. Sie ist eine meiner besten Stickerinnen, und ich habe sie wie meine Tochter behandelt. Es hat ihr an nichts gefehlt…
»Nun ja, sag mir doch: Was hat sie getan?« fragte Kassandra. »Hat sie den Griechen die Tore geöffnet, damit sie in die Stadt eindringen können?«
»Nein, ganz soweit ist es noch nicht«, gab Hekabe zu.
»Sie ist verrückt«, behauptete Kreusa. »Neulich abends hat sie Achilleus gesehen, und seit dieser Zeit redet sie nur noch von ihm: Wie stark er ist, wie geschickt er die Waffen führt, wie schön er ist - wenn ein Mann schön sein kann ….und jetzt ist sie entschlossen, hinunterzugehen und sich …«
»Den Achaiern anzubieten?« fragte Kassandra fassungslos.
»Nein«, flüsterte das Mädchen mit leuchtenden Augen, »meinem Herrn Achilleus.«
»Auch Priamos würde dich ihm nicht als Sklavin schicken«, sagte Kassandra.
»Es wäre keine Sklaverei, denn ich liebe ihn«, sagte das Mädchen, »seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, weiß ich, daß es für mich keinen anderen Mann auf der Welt geben kann.«
»Meine Mutter hat recht: Du hast den Verstand verloren!« entschied Kassandra. »Ist dir nicht klar, was für ein Tier, was für ein Rohling er ist? Er denkt nur an den Krieg. Er hat Spaß am Töten. In seinem Leben gibt es mit Sicherheit keinen Platz für eine Frau oder für die Liebe einer Frau. Wenn er überhaupt jemanden liebt, dann seinen Waffenbruder Patroklos.«
»Du irrst dich«, sagte das Mädchen, »mich wird er lieben.«
»Wenn er es täte, wäre es schlimm für dich«, entgegnete Kassandra, »ich sage dir: Dieser Mann ist wahnsinnig und krank in seiner Lust zu töten.«
»Nein, ich weiß, wie er mich angesehen hat«, widersprach die junge Frau, »wie kannst du so etwas behaupten? Er ist der hübscheste Mann, den die Götter je geschaffen haben. Und solche Schönheit muß gut sein. Seine Augen … «
Schaudernd erinnerte sich Kassandra an die Frau im Dorf der Kentauren, deren Fußgelenke durchstochen und mit einem Strick gefesselt gewesen waren. Und diese Frau hatte getan, als sei die Verstümmelung ein Liebesbeweis. Es war hoffnungslos, mit einer Frau in diesem Zustand zu reden. Doch sie mußte es versuchen - und sei es auch nur, weil sie beide Frauen und deshalb Schwestern waren.
»Wie heißt du?« fragte Kassandra.
»Briseis«, antwortete Hekabe, »sie ist eine Thrakerin. «
»Hör zu, Briseis«, sagte Kassandra, »begreifst du nicht, daß du dir selbst etwas vormachst? Diese verrückte Idee hat dir ein Dämon und kein Gott in den Kopf gesetzt. Du hast einen Mann erfunden, wie du ihn dir erträumst, und ihm den
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