Die Feuer von Troia
denn die beiden Frauen mußten in Sänften getragen werden. Die Sänftenträger und Diener - beinahe Wachen - waren starke junge Männer aus dem Tempel.
Kassandra hoffte, unauffällig aufbrechen zu können. Aber als sie sich dem Tor näherte, hatte sich dort eine kleine Gruppe versammelt: Khryse, Phyllida und einige andere, die ihr Lebewohl sagen wollten.
Phyllida umarmte und küßte sie und wünschte ihr eine angenehme Reise und eine sichere Heimkehr. Auch Khryse umarmte sie - allerdings gegen ihren Willen.
»Komm bald und gesund zu uns zurück, meine Liebe«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ich kann dir nicht sagen, wie sehr du mir fehlen wirst. Sag mir, daß auch ich dir fehlen werde.«
Sie dachte: Du wirst mir ebenso fehlen wie Zahnschmerzen, aber sie war zu höflich, um ihren Gedanken auszusprechen. »Mögen dich die Götter behüten und Chryseis zu dir zurückbringen«, sagte sie und dachte, daß sie ihm nichts Schlechtes wünschte, daß es ihr aber lieber wäre, er fände eine Frau und würde aufhören, sie zu belästigen. Schließlich trieb sie den Esel an, und sie ritten davon.
Ehe der Weg sie landeinwärts führte, mußten sie an den Schiffen der Achaier vorüber. Apollons Friede würde hier zum ersten Mal auf die Probe gestellt werden.
Eine Wache vor dem achaischen Lager entdeckte sie und rief etwas. Ein Hauptmann mit einer prunkvollen goldbeschlagenen Rüstung kam ihnen entgegen.
»Wer da? Versucht der troianische König der Stadt und der Belagerung zu entfliehen?« fragte er höhnisch, »ich wußte, daß die Troianer alle Feiglinge sind.«
»Nichts dergleichen«, erwiderten die Sänftenträger, »die Herrin ist eine Priesterin des Apollon und reist unter SEINEM Schutz.«
»Ach ja!« sagte der Hauptmann und blickte Kassandra so offen und unhöflich ins Gesicht, daß sie zum ersten Mal im Leben den Sinn des Brauchs begriff, der verlangte, daß Achaierinnen sich verschleierten. »Eine Priesterin, wie? Der Göttin Aphrodite? Schön genug ist sie.«
»Nein, sie ist eine der geweihten Jungfrauen des Sonnengottes«, erwiderte der Anführer von Kassandras Männern, »und sie ist keinem Sterblichen bestimmt.«
»Eine Jungfrau? Welch eine Verschwendung«, sagte der Mann bedauernd, »aber es braucht einen mutigeren Mann als mich, um mit dem Sonnengott um eine seiner Jungfrauen zu streiten. Und was für Schönheiten verbergen sich in den Sanften?« fragte er und zog die Vorhänge zurück.
Kassandra hatte keine Lust mehr, die ganze Sache den Männern zu überlassen. »Zwei Kammerfrauen meiner Mutter«, sagte sie, »sie sollen mich versorgen und darauf achten, daß kein Mann mir zu nahe tritt.«
»Vor mir sind sie sicher, und ich wage zu behaupten, vor jedem Mann«, sagte der Hauptmann spottend und zog sich lachend zurück.
»Ich bedaure, daß meine Kammerfrauen dir nicht gefallen«, sagte Kassandra, »aber sie sollen mich versorgen und nicht dich. Ich bin in Apollons Diensten unterwegs und nicht in deinen, deshalb bitte ich dich, laß mich durch.«
»Wohin reitest du? Und welche Dienste hast du für den Sonnengott außerhalb des Tempels zu verrichten?«
»Ich reise nach Kolchis«, entgegnete sie, »und ich reise im Dienst des Gottes. Ich suche eine Schlangenmeisterin, damit SEINE Schlangen in SEINEM Tempel richtig versorgt werden.«
»Eine junge Frau wie du reist allein so weit? Wenn du meine Tochter warst, würde ich das nicht zulassen. Aber vermutlich weiß der Gott, daß SEIN Eigentum überall in Sicherheit ist«, sagte der Hauptmann. »Reite weiter, Herrin. Apollon möge dich behüten. Ich bitte dich, gib mir SEINEN Segen«, und senkte ehrfurchtsvoll den Kopf. Das war das letzte, womit Kassandra gerechnet hatte. Aber sie breitete segnend die Hände aus und sagte: »Der Sonnengott Apollon segne und schütze dich!« und ritt weiter.
Von den Mauern Troias hatte man einen so weiten Blick, daß Kassandra vergessen hatte, wie lange man brauchte, um über die Ebene zu reiten. An diesem und an den folgenden Abenden schlugen sie ihr Lager in Sichtweite der Stadt auf und sahen beim Erwachen das Blitzen der Sonnenstrahlen auf dem Dach des Tempels. Kassandra dachte an ihre Reise mit den Amazonen und konnte nur schwer glauben, daß sie von damals bis jetzt eingesperrt hinter den Mauern der Stadt gelebt hatte. Troia, ihre Heimat und ihr Kerker. Würde sie es je wiedersehen?
In der langen Zeit, die zwischen der Ankündigung ihres Plans und der tatsächlichen Abreise vergangen war, hatte sie genug Zeit für
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