Die Feuer von Troia
sie eine Tochter des Priamos und daher nahe verwandt mit den Hauptbeteiligten in diesem Krieg war. Schon lange ehe das offizielle Geleit und die Genehmigungen erteilt wurden, hatte Kassandra die Lust verloren und wünschte, die Idee zu dieser Reise wäre ihr nie gekommen. Schließlich schwor sie bei jedem Gott, von dem sie jemals gehört hatte (und einigen anderen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte) einen heiligen Eid, daß sie für keine der beiden Parteien Botschaften befördern würde, die sich auf den Krieg bezogen; man erklärte sie zur offiziellen Botschafterin Apollons und erlaubte ihr, die Reise nach Belieben zu beginnen.
Khryse hätte sie gern begleitet, und Kassandra empfand Mitleid mit ihm; er betrauerte immer noch das Schicksal seiner Tochter im achaischen Lager, und das Wissen, daß Agamemnon sie zu seiner Geliebten gemacht hatte, tröstete ihn nicht. Khryse schwor Kassandra, er werde ihre Jungfräulichkeit achten, als sei sie seine eigene Tochter. Aber Kassandra traute nicht einmal seinem Schwur und lehnte ihn als Reisebegleiter ab. Er war ein hochgeachteter Priester des Apollon, und es sah einige Zeit so aus, als werde man ihr nicht erlauben, ohne ihn zu reisen. Schließlich wandte sie sich an Charis und erklärte, sie werde innerhalb der Stadtmauern bleiben, bis sie graue Haare bekäme, ehe sie auch nur einen Schritt in Khryses Begleitung mache. Schließlich ließ man diese Forderung fallen.
Dann wollte Priamos Botschaften an viele Freunde auf ihrem Weg schicken, und sie mußte schwören, daß es sich dabei um familiäre oder religiöse Angelegenheiten handelte, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Kassandra fand das vernünftig, denn oft hatten Reisende den Schutz ausgenutzt, den ihnen die Religion bot, und für die eine oder andere Seite Kundschafterdienste übernommen. Schließlich weigerte sich ihre Mutter, sie ohne ausreichende Aufsicht reisen zu lassen. Und am Ende mußte Kassandra, die am liebsten allein oder nur mit einer Begleiterin - vorzugsweise einer Amazone wie Penthesilea - gereist wäre, sich mit zwei der ältesten und ängstlichsten Kammerfrauen ihrer Mutter, Kara und Adrea, abfinden, und sie mußte versprechen, daß sie unterwegs stets das Bett mit ihnen teilen würde.
Was denkt sich meine Mutter dabei? fragte sich Kassandra. Wenn ich Unzucht treiben wollte, würde ich deshalb bestimmt nicht bis an das Ende der Welt reiten und es nach einem Tag im Sattel auf der harten Erde tun, wenn ich es ebenso leicht in meinem eigenen Bett haben könnte.
Aber sie wußte, so war ihre Mutter nun einmal; sie konnte es ihr nicht ausreden, und so fand sie sich mit Hekabes Wahl ab.
»Denn wenn ich mich weigere«, sagte sie zu Phyllida, als es schließlich so aussah, als seien alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und sie würde am nächsten Tag abreisen, »wird sie glauben, ich beabsichtige, mich ihrer Aufsicht zu entziehen, und das wäre der Beweis für sie, daß ich etwas Unanständiges vorhabe. Was bringt Frauen nur dazu, sich gegenseitig solcher Dinge zu verdächtigen, Phyllida?«
Phyllida seufzte. »Die Erfahrung vermutlich«, antwortete sie, »hast du mir nicht selbst gesagt, daß du Chryseis Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen hast und trotzdem ihrer Unschuld nicht sicher sein konntest?«
Kassandra wußte, es stimmte. Aber es machte sie wütend. Sie erinnerte sich daran, daß Stern gesagt hatte, die Frauen in der Stadt seien so mannstoll, daß sie hinter Mauern eingesperrt werden müßten.
Frauen, dachte Kassandra, allerdings nicht die Amazonen, verbringen ihre Tage nur deshalb damit, herumzusitzen und darüber nachzudenken, wen sie lieben, weil sie nichts anderes haben, mit dem sie sich beschäftigen können. Wenn sie eine Herde Schafe oder Pferde hüten müßten, ginge es ihnen besser …, aber das hat Oenone auch nicht davor bewahrt zu leiden, als Paris sie verließ.
In der letzten Nacht lag Kassandra lange wach und dachte über das rätselhafte Gefühl nach, das ansonsten vernünftige Frauen in Schwachsinnige verwandelte, die an nichts anderes denken konnten als an die Männer, die ihre Liebe geweckt hatten.
Man hatte beschlossen, daß sie bei Tagesanfang abreisen solle.
Deshalb stand sie auf, sobald es dämmerte, aß etwas Brot und trank einen Becher verdünnten Wein. Sie hatte gehofft, auf einem schnellen Pferd reiten zu können, aber ihre Begleiterinnen waren dafür zu alt und zu behäbig. Deshalb hatte sie sich für einen ruhigen alten Esel entschieden,
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