Die Feuer von Troia
gewesen waren. Wenn es dieses Dorf war, mußte es die Heimsuchung überlebt haben, denn Kassandra sah zunächst nur gesunde, kräftige Kinder. Dann entdeckte sie aber auch ein paar ältere Mädchen und Knaben mit nur zwei Fingern an jeder Hand. Kassandras kleiner Trupp war seit acht oder zehn Tagen keiner Menschenseele mehr begegnet, und als die Dorfälteste herbeikam, um sie zu begrüßen, schien auch sie froh, die Reisenden zu sehen.
»Es war ein langer Winter«, sagte sie, »und wir haben in all den Monden keinen Menschen zu Gesicht bekommen, außer ein paar Kentauren, die vor Hunger so schwach waren, daß sie nichts von unseren Frauen wollten, sondern nur um etwas zu essen baten.«
»Wie traurig«, erwiderte Kassandra. Die Dorfälteste verzog mißbilligend das Gesicht.
»Du bist Priesterin, und ich nehme an, es ist deine Pflicht, auch für solche Mitleid zu empfinden. Aber sie haben uns so oft in Angst und Schrecken versetzt, daß ich nur Genugtuung spüre, wenn ich sehe, wie sie heruntergekommen sind. Mit ein bißchen Glück werden sie alle verhungern, und wir brauchen sie nie wieder zu fürchten. Habt ihr Eisenwaren oder Waffen zu tauschen? In letzter Zeit will niemand, der hier vorbeizieht, mit uns Handel treiben. Alles Eisen und alle Waren, die die Karawanen bei sich haben, ist für den Krieg in Troia bestimmt, und für uns bleibt nichts.«
»Tut mir leid, ich habe keine Waffen«, erwiderte Kassandra. »Aber wir werden ein paar eurer Gefäße kaufen, wenn ihr sie immer noch macht. «
Man brachte die Gefäße, und sie wurden des langen und breiten in Augenschein genommen. Die Nacht brach ein, und die Dorfälteste bat die Gesellschaft, mit ihr zu essen und den Handel am nächsten Morgen abzuschließen. Die Frau stellte ihnen eine steinerne Hütte zur Verfügung und lud sie zum Abendessen in die größte Hütte ein. Die Mahlzeit war nicht besonders üppig; das Fleisch schien von einer Art Erdhörnchen zu stammen und war zusammen mit bitteren Eicheln und geschmacklosen weißen Wurzeln gekocht. Aber es war wenigstens etwas Frisches. Kassandra dachte an das vergiftete Getreide und zögerte, überhaupt etwas zu essen. Dann beruhigte sie sich mit dem Gedanken: Ich bin zwar immer noch im gebärfähigen Alter, aber ich bin nicht verheiratet und werde es vermutlich nie sein. Außerdem ist es auch kaum wahrscheinlich, daß ich schwanger werde, solange die beiden Kammerfrauen rechts und links von mir schlafen.
Das Dorf muß die Seuche irgendwie überstanden haben, denn sonst wäre inzwischen niemand mehr am Leben.
Endlich sahen sie die eisernen Tore von Kolchis. Sie waren so groß und eindrucksvoll wie immer, und Kassandra zog ihr ledernes Reitzeug aus und legte ihre besten troianischen Gewänder in prachtvollen leuchtenden Farben an. Kara flocht ihr die Haare und steckte sie in der kunstvollen Weise auf, wie die Priesterinnen des Sonnengottes sie trugen. Kassandra wollte Königin Imandra als Prinzessin von Troia begegnen, nicht als herumziehende Bittstellerin.
Man empfing sie am eisernen Stadttor als troianische Gesandte und lud sie ein, im Palast zu wohnen. Kassandra erklärte, sie müsse zuerst dem Sonnengott ihre Aufwartung machen, und begab sich zum großen Tempel in der Stadtmitte. Sie opferte Apollon, dem Gott mit dem Langbogen, ein Paar Tauben. Danach führte man sie in den Palast und brachte sie in die schönen Gästegemächer. Dort standen Kassandra Bade- und Ankleidefrauen zur Verfügung; während der langen und wohltuenden Badeprozedur, bei der sie nur wenig selbst zu tun hatte, dachte Kassandra, daß sie auf der langen Reise völlig vergessen hatte, was Luxus und Bequemlichkeit ist. Sie genoß das dampfende Wasser, die wohlriechenden Öle, die sanfte Massage des Körpers mit Bürsten und die weichen Hände der Frauen. Dann kleidete man sie in kostbare Gastgewänder und führte sie in den Audienzsaal der Königin Imandra.
Kassandra hatte damit gerechnet, daß die Königin älter aussehen werde; auch sie war nicht mehr das kindliche Mädchen, das schüchtern und befangen an Penthesileas Seite vor vielen Jahren hierhergekommen war. Doch die Veränderung übertraf ihre Vorstellungen bei weitem. Wäre sie dieser Frau nicht im Thronsaal begegnet, hatte sie in ihr nie die stolze Nachfahrin der Medea erkannt.
Imandra war unglaublich dick geworden; sie war nicht mehr stattlich, sondern fett und über und über mit Gold behangen. Allerdings ringelte sich um den dicken Leib nicht mehr die große Schlange.
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