Die Feuer von Troia
nichts zu tun haben wollten. Sie begegneten zwar keinem lebenden Kentauren, aber eines Abends entdeckten sie in einem Graben ein totes Pferd und die abgezehrte, verkrümmte Leiche seines Reiters. Die spitzen Knochen stachen beinahe durch die Haut. Das verriet ihnen, daß der arme Mann vor Hunger und Kälte gestorben war.
Kassandras Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen. Die Kutscher und Frauen sagten jedoch, das sei ganz gut so, und wünschten allen Kentauren ein ähnliches Schicksal.
Als sie eines Abends gerade das Lager aufschlugen, entdeckte Kassandra in der Ferne einen kleinen Reitertrupp. An der Spitze ritt ein alter Mann; ihm folgten etwa ein halbes Dutzend kleiner Gestalten, die wie Kinder wirkten, vermutlich aber unterernährte Halbwüchsige waren. Kassandra konnte es nicht genau erkennen, aber sie glaubte, es sei Cheiron. Sie winkte den Kentauren und rief ihnen in ihrer Sprache etwas zu. Aber sie kamen nicht näher. Sie zogen langsam ihre Kreise um das Lager, aber zu weit entfernt, um sie deutlich zu sehen oder um zu hören, was sie miteinander sprachen.
»Heute stellen wir besser doppelte Wachen auf«, sagte ein Kutscher, »sonst überfallen sie vielleicht das Lager und ermorden uns alle, während wir schlafen. Den Kentauren kann man nicht trauen!«
»Das ist nicht wahr!« protestierte Kassandra, »sie werden uns nichts tun. Sie fürchten sich mehr vor uns als wir vor ihnen.«
»Man sollte die Kentauren ausrotten«, sagte Kara, »sie sind keine zivilisierten Menschen.«
»Sie sind hungrig. Das ist alles«, sagte Kassandra, »sie wissen, daß wir etwas zu essen und Tiere haben. Schon unsere Ziege wäre die beste Mahlzeit, die sie in diesem Jahr gehabt hätten.«
Trotz der Mißbilligung ihrer Frauen und Diener hätte Kassandra den Kentauren gern Geschenke gemacht und ihnen etwas zu essen gegeben. Deshalb versuchte sie immer wieder, die Kentauren zum Lager zu locken. Aber sie hielten sich vorsichtig fern und umkreisten das Lager, ohne näherzukommen. Die Wachen wurden aufgestellt, und Kassandra lag noch lange wach. Sie dachte an die Kentauren auf ihren Pferden dort draußen in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen ließ sie ein paar Gerstenbrote und etwas Mehl in einem alten gesprungenen Topf zurück, den sie ohnehin wegwerfen wollten.
Als sie weiterfuhren, sah Kassandra, daß die Kentauren sich dem Lagerplatz näherten. Wenigstens würden sie etwas zu essen finden. Das mochte den Hungertod vielleicht für kurze Zeit hinauszögern.
Für Bienchen, dachte Kassandra, werden die Kentauren nur noch eine Legende sein. Alle werden ihr erzählen, daß sie böse waren. Aber sie besaßen auch Weisheit und eine Lebensweise, die es nie wieder geben wird. Erwartet die Amazonen möglicherweise das gleiche Schicksal?
Nach der Beinahbegegnung mit den Kentauren kam ihr der Weg lang und eintönig vor. Tag um Tag krochen sie über die Hochebene und begegneten nur wenigen oder keinen Reisenden. Die Tage unterschieden sich nur durch den Mond, der immer wieder zunahm und abnahm, und das Wetter. Es wurde immer kälter und fing an zu schneien.
Auf dem Weg durch das Gebiet, in dem Kassandra erwartete, Amazonen zu sehen, entdeckten sie überhaupt keine Reiter - weder Männer noch Frauen. Waren alle Amazonen vom Erdboden verschwunden? Oder wurden sie gefangengehalten und mußten in den Dörfern der Männer dienen? Sie hätte Penthesilea gern eine Nachricht geschickt, hatte aber keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte. Lebte Penthesilea überhaupt noch? Sie versuchte, ihre Tante in der Schale mit reinem Wasser zu sehen, fand sie aber nicht.
Die Steppe lag unter einer tiefen Schneedecke, und es war bitterkalt. Kassandra fürchtete um ihre Schlangen. Sie blieb mit Bienchen in die Decken gehüllt im Wagen, wo ihre Töpfe standen und das Feuer in der Kohlepfanne etwas Warme verbreitete. Manchmal lag der Schnee so tief, daß die Wagen nicht von der Stelle kamen, und sie waren den ganzen Tag ohne Licht und ohne Warme. Sie konnten nicht einmal richtig kochen. Die Kammerfrauen mußten sogar die Ziege zu sich in ihren Wagen nehmen, denn das Tier wäre in den tiefen Schneewehen vermutlich verlorengegangen.
Auch Bienchen veränderte sich, während die Monde vergingen. Manchmal hatte Kassandra das Gefühl, sie könne zusehen, wie das Mädchen über Nacht größer wurde. Bienchen schien jeden Tag etwas Neues zu können und damit ihre Ziehmutter zu überraschen. Ein paar Tage nach dem Auftauchen der Kentauren bekam sie ihren
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