Die Feuer von Troia
hätten, »wäre ich zufrieden. Inzwischen könntest du mir den Riemen noch einmal flicken.«
»Ich glaube, es würde nicht lange halten. Er ist schon zu oft zusammengenäht worden«, meinte der Mann. »Prinzessin, wenn du nur eine halbe Stunde in meinem bescheidenen Laden warten willst, ist das neue Paar fertig. Darf ich dir ein Glas Wein bringen lassen? Eine Scheibe Melone oder eine andere Erfrischung? Nein? Dann vielleicht etwas für das Kind?«
»Nein, vielen Dank«, erwiderte Kassandra. Auch Biene mußte lernen, notfalls geduldig zu warten. Kassandra beobachtete, wie der Mann die Sohlen der Sandalen beschnitt, die etwas zu groß gewesen waren, und die Riemen neu annähte, was er mit einer dicken Ledernadel und einem Fingerhut tat. Er besaß eine Eisennadel; vermutlich konnte er deshalb so schnell arbeiten. Mit Bronzenadeln ließ sich das Leder nicht so mühelos durchstechen. Kassandra überlegte, ob die Nadel in die Stadt geschmuggelt worden war, oder ob der Mann mit den Achaiern Handel trieb. Vermutlich sollte sie sich nicht darum kümmern, denn mit den Achaiern zu handeln war verboten. Aber wenn die Stadtwächter jeden in den Kerker geworfen hätten, der verbotenerweise Handel trieb, hätte es bald überhaupt keinen Handel mehr gegeben, und das Geschäftsleben der Stadt wäre zum Erliegen gekommen.
Durch die lange Belagerung waren bereits viele Nahrungsmittel nur noch schwer zu bekommen. Allein die Gärten hinter den Mauern retteten die Bewohner. Die Weinreben und die Olivenbäume lieferten Wein, und jedermann zog eigenes Gemüse. In vielen Häusern hielt man Tauben und Kaninchen in Käfigen; früher dienten sie als Opfergaben, inzwischen aß man sie selbst, um dem schlimmsten Hunger zu entgehen. Brot war überall Mangelware außer bei den Soldaten und im Palast, obwohl während des Waffenstillstands ein paar Wagenladungen Getreide unbehelligt die Stadt erreicht hatten. Würde das offizielle Ende des Waffenstillstandes eine Verschärfung der Belagerung mit sich bringen? Oder würden die Achaier keine Lust mehr haben, ohne Achilleus zu kämpfen, und absegeln? Das wäre das beste.
Wenn die Achaier allerdings glaubten, die Götter seien auf ihrer Seite - und hier rissen Kassandras Gedanken in der ihr inzwischen bekannten Verwirrung ab: Warum sollten die Götter sich in die Angelegenheiten der Menschen mischen? Hektor hatte darauf geantwortet: Warum nicht? Kassandra hatte sich diese Frage seit Kriegsausbruch gestellt, wenn auch, ohne eine Antwort zu finden. Träume ! Was nützen Träume? Und doch hatten ihre Träume sie vor dem großen Erdbeben gewarnt. Also sollte sie ihnen trauen; es blieb ihr auch keine andere Wahl. Die Träume stellten sich ein; wenn Kassandra sie nicht ernst nahm, tat sie das auf eigene Gefahr - und soviel sie wußte, gefährdete sie damit Troia und ihre Welt.
Sie hing ihren Tagträumen nach, als sie plötzlich Lärm in den Straßen hörte. Hektors Streitwagen donnerte durch die Stadt hinunter zum Tor. Kassandra, die auf der Bank im Laden des Sandalenmachers saß, kam es vor, als sei die halbe Bevölkerung auf den Beinen, um ihm zuzujubeln. Nach so langer Zeit hätte man eigentlich annehmen sollen, die Leute seien daran gewöhnt und würden sich nicht darum kümmern. Aber Hektors Erscheinen rief bei den Leuten die gleiche Begeisterung hervor wie am ersten Tag, als er die Parade der Truppen abgenommen hatte. Wie schön für ihn, dachte Kassandra nicht ohne Bitterkeit und wollte sich abwenden. Der Mann brachte ihr die neuen Sandalen, aber auch er starrte Hektors Streitwagen nach, anstatt ihr behilflich zu sein, sie anzuziehen.
»Er fährt den Streitwagen wie der Kriegsgott persönlich«, sagte er und fragte: »Prinzessin, ist er dein Bruder?«
»Ja, er ist der Sohn meiner Mutter und meines Vaters«, erwiderte Kassandra.
»Sag mir, was für ein Mann ist er? Ist er wirklich der Held, der er zu sein scheint?«
»Er ist ganz sicher ein tapferer und kühner Kämpfer«, sagte sie. Aber ist es Tapferkeit oder schlicht mangelndes Vorstellungsvermögen? Paris kann Tapferkeit vortäuschen, aber nur, weil er mehr als alles auf der Welt fürchtet, für einen Feigling gehalten zu werden.
»Aber darüber hinaus«, fuhr sie fort, »ist Hektor nicht nur ein guter Kämpfer, sondern auch ein guter Mensch. Er besitzt noch andere Tugenden als Tapferkeit.« Der Mann sah sie überrascht an, da er sich offenbar unter anderen Tugenden nichts vorstellen konnte. »Ich meine, man könnte ihn
Weitere Kostenlose Bücher