Die Feuer von Troia
einem Schlangenei gekrochen!«
»Als Hüterin der Schlangen weise ich das zurück«, sagte Kassandra. »Keine Schlange ist je vorsätzlich grausam gewesen. Schlangen töten nur, um sich zu ernähren oder um ihre Brut zu verteidigen. Und noch nie hat eine Schlange gegen eine andere Krieg geführt, gleich welchem Gott sie dienen mag.«
»Lassen wir es für heute«, sagte Andromache, »vielleicht schenkt ihm ein neuer Tag mehr Vernunft.« Sie drehte sich um und wandte sich damit bewußt vom Kampfplatz ab. Sie zog Hekabe sanft auf die Füße und reichte der alten Frau den Arm, die sich dankbar auf sie stützte, wie Kassandra bemerkte.
Kassandra beugte sich über den leblosen Troilos. Sie erinnerte sich noch an seine Geburt. Was war er für ein hübscher, rundgesichtiger roter Säugling gewesen, der die winzigen Hände ballte und lebhaft strampelte. Wie sehr hatte ihre Mutter damals um einen Sohn gebetet, und wie glücklich war sie gewesen, als sie einen Sohn bekam. Andererseits war Hekabe über jeden Sohn glücklich gewesen, der im Palast geboren wurde - auch über die Söhne der Nebenfrauen. Immer hielt die Königin als erste das Neugeborene in den Armen und achtete dabei nicht auf den Rang der Mutter. Kassandra hatte versprochen, Polyxena zu benachrichtigen. Sie stieg langsam die steilen Straßen zum Tempel der Jungfrau hinauf. Der Wind dort oben zerrte an ihrem Mantel und in ihren Haaren. Schließlich erreichte sie den Vorhof, in dem die Statue der Jungfrau stand.
Kassandra lebte inzwischen schon so viele Jahre als Priesterin, daß sie sich kaum noch Gedanken über das Wesen der Götter und Göttinnen machte oder sich fragte, ob sie wirklich von einem Ort jenseits der Menschenwelt kamen oder ob sie einer menschlichen Seele entsprungen waren, die in ihnen die Tugenden und das Göttliche anbeten wollte. Während sie nun das heitere gelassene Gesicht der Göttin betrachtete, stiegen wieder Fragen in ihr auf. Konnte jemand, sei er Mensch oder Gott, ohne Mutter geboren werden, und war nicht diese Vorstellung an sich schon eine Lästerung alles Göttlichen? Sie hatte kein Kind geboren, aber die ungestillte Sehnsucht nach Mutterschaft hatte ihr schließlich Biene geschenkt, und Kassandra wußte, sie würde das Kind wie jede Mutter mit ihrem Leben verteidigen.
Sie teilte mit ihrer Mutter einen qualvollen Schmerz. Ihre Schuld lag darin, Achilleus unterschätzt zu haben. Sie hätte wissen sollen, daß sein Wahnsinn ihn gefährlicher machte als einen Hund, der bösartig und unberechenbar geworden war.
Aber eine Warnung von ihr wäre unbeachtet geblieben.
Eine Tempeldienerin erkannte sie und fragte ehrerbietig, ob sie etwas für die Tochter des Priamos tun könne.
»Ich möchte meine Schwester Polyxena sprechen«, erwiderte sie, und die Frau verschwand, um Polyxena zu rufen.
Es dauerte nicht lange, bis Kassandra Schritte hörte. Ihre Schwester kam herein. Beim Anblick Kassandras rief sie: »Du bringst schlechte Nachrichten, Schwester! Ist unsere Mutter, unser Vater…?«
»Nein, sie leben noch«, antwortete Kassandra, »obwohl ich nicht weiß, was ihnen diese Nachricht noch antun wird.« Polyxena war inzwischen eine große, erwachsene Frau, hatte aber immer noch ein weiches Kindergesicht. Sie umarmte Kassandra, wobei ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Was meinst du damit? Sag mir… «
»Hektor … «, begann Kassandra und glaubte, auch weinen zu müssen.
»Das Schlimmste«, flüsterte sie, »nicht nur Hektor, sondern auch Troilos … « Etwas schnürte ihr die Kehle zu, und sie konnte kaum weitersprechen. »Beide sind an einem Tag gefallen… tot durch die Hand des Achilleus. Und dieser Wahnsinnige zerrt Hektors Leiche hinter seinem Streitwagen her und ist nicht bereit, sie zurückzugeben, damit wir sie beerdigen können. .
Polyxena schluchzte laut auf, und die Schwestern klammerten sich trostsuchend aneinander in einer Verbundenheit, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gekannt hatten.
»Ich komme sofort«, erklärte Polyxena, »Mutter wird mich brauchen. Ich will nur noch meinen Mantel holen.« Sie eilte davon, und Kassandra dachte traurig: Das stimmt. lch kann Mutter nicht trösten. Selbst Andromache stand Hekabe näher als sie. Das war schon immer so gewesen: Die Eltern hatten Hektor von all ihren Kindern am meisten geliebt, und Kassandra stand ihren Herzen am fernsten. Lag es nur daran, daß sie immer so anders gewesen war als ihre Geschwister?
Es brach ihr beinahe das Herz, daß sie sich selbst
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