Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
Vom Netzwerk:
in dieser traurigen Stunde nicht ihrer Mutter zuwenden konnte. Sie wahrte immer Haltung, und da sie vor Schmerz oder Trauer nicht außer sich war, kam es niemand in den Sinn, daß sie selbst Trost brauchte. Sie wußte, ihre unendliche, tränenlose Trauer erschien ihrer Mutter kalt und unmenschlich und einer Frau überhaupt nicht angemessen. Polyxena kam zurück. Sie trug den hellen Mantel einer Priesterin und hatte etwas in einem Tuch um die Hüfte gebunden. Die Augen waren rot, aber sie weinte nicht mehr. Kassandra wußte jedoch, beim Anblick der Tränen ihrer Mutter würden auch Polyxenas Tränen wieder fließen.
    Ich wünschte, ich könnte weinen. Hektor verdient alle Tränen, die wir für ihn vergießen können. Verzweifelt fragte sie sich: Was ist mit mir los, daß ich trotz all meiner Trauer nicht um meinen liebsten Bruder weinen kann?
    Aber eine leise, nüchterne Stimme in ihrem Herzen sagte:  Hektor war ein Narr. Er wußte, daß Achilleus ein Wahnsinniger ist, der sich an keine Regeln zivilisierter Kriegführung halten würde, und trotzdem ist Hektor für etwas, das er Ehre nannte, in den Tod gegangen. Diese Ehre war ihm lieber als das Leben, als Andromache, als sein Sohn oder der Gedanke an das Leid seiner Eltern.
    Obwohl das alles so schrecklich war, konnte Kassandra keinen größeren Abscheu oder keine größere Bestürzung über das empfinden, was Achilleus mit der Leiche getan hatte. Hektor war tot, und das war schlimm genug. Was konnte das noch schlimmer machen?
    Wir werden ohnehin alle sterben, und nur wenige so schnell und gnädig wie Hektor. Warum freuen wir uns nicht, daß ihm weiteres Leid erspart geblieben ist?
    Zusammen stiegen sie den Hügel zum Palast hinunter. Es blies ein kalter Wind, der nach Regen roch. In der Dunkelheit konnte man nicht erkennen, ob Achilleus immer noch auf seinem Streitwagen über die Ebene raste.
    »Vielleicht wagen sie heute nacht einen Ausfall, um Hektors Leiche zurückzuholen«, sagte Polyxena, »oder Achilleus wird sich auf ein Lösegeld einlassen, wenn es anfängt zu regnen. Er wird bestimmt nicht in einem Unwetter auf dem Streitwagen stehen wollen.«
    »Ich glaube nicht, daß ihm das etwas ausmachen würde«, entgegnete Kassandra, »ich glaube, das Vernünftigste wäre, wir würden uns damit abfinden und etwas tun, womit er nicht rechnet: Soll er doch den Leichnam heute nacht behalten! Morgen müssen wir alle Kräfte zusammenziehen, einen Großangriff wagen und versuchen, Achilleus, Agamemnon und vielleicht sogar Menelaos zu töten. «
    Polyxena starrte sie entsetzt an. Der einsetzende Regen mischte sich mit den Tränen auf ihren Wangen.
    »Ich bitte dich, Schwester, sag so etwas nicht zu unserer Mutter oder unserem Vater«, bat sie, »ich glaube, selbst du kannst nicht so herzlos sein und Hektor unbegraben im Regen liegen lassen.« 
    »Nicht Hektor liegt unbegraben im Regen«, erwiderte Kassandra heftig, »dort liegt eine Leiche wie jede andere.«
    »lch weiß nicht, ob du dumm bist oder bösartig«, rief Polyxena, »aber du redest wie eine Barbarin und nicht wie eine zivilisierte Frau, eine Priesterin und Prinzessin von Troia.« Sie sah entschlossen geradeaus, und Kassandra wußte, sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie wandte den Kopf ab, um die Tränen in ihren Augen vor Polyxena zu verbergen, obwohl sie wußte, ihre Schwester würde von ihr nicht schlechter denken, wenn sie die Tränen sah. Die beiden Frauen gingen schweigend nebeneinander her.
    Im Palast nahm eine Dienerin (Kassandra stellte fest, daß die Augen der alten Frau ebenso rot und geschwollen waren wie die Augen ihrer Mutter - jeder bis hinunter zu den Küchenmägden hatte Hektor verehrt, und die Frauen im Palast erinnerten sich noch allzu gut an Troilos als ein kleines, von allen verwöhntes Kind) ihnen die nassen Mäntel ab, trocknete ihnen die Haare und Füße mit Handtüchern, und man führte sie in die große Halle.
    Sie wirkte beinahe wie immer - ein loderndes Feuer und vielarmige Leuchter verbreiteten flackernde Helligkeit, und die Malereien an den Wänden wirkten, als sähe man sie unter Wasser. Die geschnitzte Bank, auf der Hektor üblicherweise saß, war leer, und Priamos und Hekabe hatten Andromache zwischen sich gesetzt, wie Eltern es mit einem Kind tun.
    Paris und Helena saßen daneben und hielten sich an der Hand. Sie kamen den beiden entgegen und begrüßten Polyxena, die zu ihren Eltern ging und sie küßte. Kassandra setzte sich auf den gewohnten Platz neben Helena. Als

Weitere Kostenlose Bücher