Die Feuer von Troia
Locken ab. Dann tat sie dasselbe bei Kassandra, die verblüfft auf die langen Zöpfe blickte, die auf dem Boden lagen. »Verzichtest du Hektor zuliebe nicht gerne auf deine Eitelkeit?« rief Polyxena.
Natürlich würde ich es tun, wenn Hektor auch nur das geringste davon hätte , dachte Kassandra. Aber sie war klug genug zu schweigen. Priamos behielt nur einen großen schönen Smaragdring am Finger - ein Geschenk für Achilleus, wie er sagte - und zog auch seine Sandalen aus. Kassandra und Polyxena nahmen Fackeln und verließen mit ihrem Vater den Palast. Am Stadttor forderte Priamos sein Gefolge auf zurückzukehren. »Ich weiß, ihr wollt mich nicht verlassen«, sagte er. »Aber wenn wir das nicht allein tun, kann es vermutlich überhaupt nicht getan werden. Wenn Achilleus nicht auf einen gramgebeugten Vater und zwei trauernde Schwestern hört, kann ihn auch die ganze troianische Streitmacht nicht zur Vernunft bringen. Geht in den Palast zurück, meine Kinder.«
Die Leute weinten und jammerten aus Angst um ihn, aber als die drei Bittsteller durch das Tor schritten und im Licht der beiden Fackeln über die Ebene zogen, gehorchten sie schließlich.
Die Erde war an einigen Stellen vom Regen immer noch schlammig, und es war finster. Über den Himmel zogen dicke Wolken, und nur hin und wieder zeigte sich der abnehmende Mond. Kassandra zitterte in ihrem einfachen Gewand und spürte in den schlammigen Füßen die Kälte. Sie rechnete jeden Augenblick damit, daß der Himmel seine Schleusen wieder öffnen werde. Wie sinnlos das alles war, und doch, wie hätte sie ablehnen können, wenn ihr Vater dadurch seinen Seelenfrieden fand.
Kassandras Herz krampfte sich zusammen, als ihr auffiel, wie langsam Priamos vorankam. Seine Beine schienen ihn kaum zu tragen, nur seine Willenskraft trieb ihn vorwärts. Wird das sein Tod sein? Verwünschter Hektor, der das Pech und den Unverstand hatte, gegen Achilleus zu kämpfen und sich töten zu lassen! dachte sie und wankte hinter Polyxena her. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie sah kaum noch, wohin sie gingen.
Befand sich Hektor immer noch auf dieser Ebene? War seine Leiche immer noch an den Streitwagen gebunden? Warum erschien er nicht und sprach mit ihnen? Warum verbot er seinem Vater nicht, sich vor Achilleus zu demütigen? Nein, Hektor hatte sich von ihr verabschiedet und erklärt, sie würden sich nicht wieder begegnen. Hätten Priamos und Hekabe ihr geglaubt, wenn sie ihnen erzählt hätte, daß sie das zerstörte Troia gesehen hatte? Oder wären sie danach nur noch entschlossener gewesen, alles in Ordnung zu bringen, solange noch Zeit dazu war?
Ein Wachposten rief sie an: »Wer da?«
Priamos antwortete mit schwacher, zittriger Stimme. Kassandra war noch nie so deutlich bewußt geworden, wie alt und gebrechlich ihr Vater inzwischen war. »Priamos, Sohn des Laomedon, König von Troia. Ich bin gekommen, um mit Prinz Achilleus zu verhandeln.«
»König von Troia, du bist willkommen. Aber wenn du eine bewaffnete Wache bei dir hast, muß sie hier zurückbleiben.«
Man hörte Gemurmel, und nach einiger Zeit leuchtete ein, Windlicht auf.
»Ich habe weder eine bewaffnete noch eine unbewaffnete Wache bei mir«, erwiderte Priamos. »Ich komme als Bittsteller zu Achilleus, und nur meine zwei jungen Töchter begleiten mich.«
Das klingt, dachte Kassandra, als seien wir kleine Mädchen und nicht erwachsene Frauen. Auch Priamos schien eine Erklärung für notwendig zu halten, denn er fügte hinzu: »Sie sind beide Priesterinnen, nicht Frauen von Kriegern. Die eine ist Priesterin des Apollon, die andere Priesterin der Jungfräulichen Athene.«
»Warum begleiten sie dich?«
»Wir stützen unseren Vater, damit er nicht stolpert«, erwiderte Polyxena, während man ihnen in die Gesichter leuchtete.
Kassandra erklärte: »Die achaischen Heerführer kennen mich. Ich war bei den Verhandlungen über die Rückkehr von Chryseis, der Tochter des Apollonpriesters, anwesend.« Sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, das zu erwähnen, denn damals hatte Achilleus nicht so gut abgeschnitten und wollte sicher nicht daran erinnert werden.
Aber die Wache wußte das offenbar nicht oder kümmerte sich nicht darum. »Dann können sie mitkommen«, entschied der Mann. Er senkte das Windlicht. »Folgt mir.«
Er führte sie über viele tiefe Wagenspuren hinweg zu dem Lichtschein, der aus dem Zelt des Achilleus fiel. Im Zelt war es warm, sogar einigermaßen bequem. Es gab Stühle mit
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