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Die Feuer von Troia

Die Feuer von Troia

Titel: Die Feuer von Troia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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der den Ruderern das Tempo vorgab, dachte sie:
    Es ist nicht nur das. Es käme ihnen nie in den Sinn, daß eine Frau an Flucht denken könnte.
    Als die Männer vor einer Woche auf einer kleinen Insel an Land gegangen waren, um frisches Trinkwasser zu holen, hatte man sie unbewacht gelassen. Sie hatte nicht versucht zu fliehen - wohin auch? Sie sah, daß die Insel so klein war, daß sie sich unmöglich hätte verstecken oder einen Unterschlupf finden können. Für jemanden, der auf der Insel lebte, hätte ihre Bitte um Schutz bedeutet, daß sich Agamemnons Zorn auf einen harmlosen Bauern entlud, der vielleicht Erbarmen mit ihr gehabt hätte. Nur in einem Tempel der Jungfrau - oder des Sonnengottes - hätte sie gewagt, um Schutz zu bitten.
    Das konnte sie immer noch tun, wenn sie einen Tempel fand. Sie vermutete allerdings, daß Agamemnon sie rechtmäßig als Kriegsbeute beanspruchen durfte. Entflohenen Sklaven brachte man kaum Mitgefühl entgegen. Nach dem Untergang Troias konnte sie sich nicht länger darauf berufen, daß sie eine Prinzessin war. Jeder, der über sie sprach (sie mußte nur an die Worte der Diener und Soldaten auf dem Schiff denken), schien der Ansicht, sie habe keinen Grund, nicht für den Rest des Lebens mit ihm zufrieden zu sein.
    Ihr wurde klar, daß sie ihre Gedanken abschweifen ließ, um nicht ernsthaft darüber nachzudenken, daß sie vermutlich Agamemnons Kind im Leib trug. Sollte sie es ihm sagen? Nicht sofort. Er würde sich zu sehr darüber freuen und möglicherweise glauben, sie erhebe Anspruch auf sein Mitgefühl oder auf seine Freundlichkeit.
    Agamemnon stand am Heck neben dem Steuermann. Wie seine Männer trug er nur ein schlichtes Lendentuch aus grobgewebtem und gebleichtem Leinen, aber der goldene Halsring und sein Schmuck machten ebenso wie seine soldatische Haltung und sein herrisches Wesen deutlich, wer König und wer Diener war.
    Agamemnon sah sie im Schatten des Segels sitzen und kam mit großen Schritten auf sie zu.
    »Kassandra, ich freue mich, daß du wach bist«, sagte er, »das Meer ist ruhig, und die Sonne wird dir gut tun. Als wir heute morgen an Land gegangen sind, um frisches Trinkwasser zu holen (sie hatte geschlafen und nur undeutlich wahrgenommen, daß das Schiff ruhig lag), haben die Männer frische Trauben gepflückt. Möchtest du vielleicht etwas davon?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, rief er den vier Dienerinnen zu (die meiste Zeit saßen sie am Heck und unterhielten sich): »Ihr da!« - Agamemnon redete die Frauen nie mit Namen an -, »bringt uns von den Trauben. Oder habt ihr sie schon alle gegessen, ihr verfressenen Dinger?«
    »Oh, nein, mein König«, murmelte die größte der Frauen und stand auf. Sie nahm aus einem großen Korb vier oder fünf Trauben mit kleinen Beeren, legte sie auf ein Silbertablett (Kassandra kannte es aus dem Palast; auch Hekabe hatte es wegen der gehämmerten Ranken für Trauben benutzt) und kam damit über das Deck. Die Frau kniete vor Agamemnon nieder. Er bedeutete ihr mit einer Geste, die Trauben zuerst Kassandra anzubieten. Sie kam Kassandra irgendwie bekannt vor. Hatte sie die Frau schon einmal in den Straßen Troias gesehen?
    »Prinzessin…«, flüsterte die Frau mit demütig niedergeschlagenen Augen. Kassandra fragte sich, was beim Untergang der Stadt wohl aus Chryseis geworden war. Sie zupfte ein paar Beeren ab und steckte eine in den Mund. Die saftige Säure empfand sie als angenehm, und sie schluckte vorsichtig. Kassandra erwartete beinahe, ihr würde auf der Stelle wieder übel werden. Agamemnon hatte sich eine ganze Traube genommen und aß genußvoll. Er hatte große, starke, weiße Zähne - Wie ein Pferd!  dachte Kassandra voll Abscheu. Sie mußte sich abwenden, um das krampfhafte Würgen zu unterdrücken. Aber es gelang ihr, ein paar Beeren zu schlucken, ohne sie sofort wieder erbrechen zu müssen.
    »Es freut mich zu sehen, daß du wieder ißt«, bemerkte Agamemnon, »die Seekrankheit dauert selten so lange. Wenn du gesund bist, wirst du so schön sein wie damals, als ich dich zum ersten Mal gesehen und sofort begehrt habe.«
    Kassandra begriff, daß er glaubte, ihr damit ein Kompliment zu machen: Er versuchte, freundlich zu sein. Nun ja, sie war vermutlich zumindest für einige Zeit an ihn gebunden. Bei einer Schwangerschaft mußte sie natürlich jeden Gedanken an Flucht aufgeben, bis das Kind geboren war. Es wäre töricht gewesen, ihn zu zwingen, in ihr eine Feindin zu sehen und sie strenger bewachen zu lassen.

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