Die Feuer von Troia
nichts Neues«, erwiderte Kassandra. »Meiner Meinung nach haben wir im letzten Monat genug gefastet, um jede Göttin gnädig zu stimmen. Was kann Sie mehr von uns verlangen?«
»Psst«, sagte Elaria. »Die Göttin hat bis jetzt immer für uns gesorgt. Wir leben noch. Es hat viele Jahre gegeben, in denen das Land geplündert und von umherstreifenden Gesetzlosen bedroht wurde. Dann verließen wir unsere Weidegründe erst, wenn die Hälfte der kleinen Kinder gestorben waren. In diesem Jahr hat uns die Göttin noch keinen einzigen Säugling und kein einziges Fohlen genommen. «
»Das ist auch besser für Sie «, sagte Kassandra. »Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Nutzen tote Amazonen für die Göttin haben. Es sei denn, SIE möchte, daß wir lHR in der anderen Welt dienen. «
Kassandra quälte der Hunger. Sie zog das feuchte Lederzeug aus und schlüpfte in ein trockenes Gewand aus grobgewebter Wolle. Mit einem Holzkamm fuhr sie sich durch die Haare, flocht sie zu einem Zopf und steckte ihn im Nacken zu einem Knoten zusammen. Dann gingen sie hinüber in das große Zelt. In ihrem halbverhungerten und erschöpften Zustand empfand sie die trockene Kleidung und das warme Feuer als sinnlichen Genuß. Sie blieb eine Zeitlang stehen und nahm die Wärme in sich auf, bis eine der Frauen sie beiseite schob. Der Rauch füllte allmählich das niedrige Zelt; Kassandra hustete und würgte und glaubte, sie hätte sich übergeben müssen, wenn ihr Magen nicht schon leer gewesen wäre.
Hinter sich spürte sie den Druck der anderen im Zelt, das stumme Geraschel der Frauen, Mädchen und kleinen Kinder: Alle Frauen des Stammes schienen sich im Dunkeln hinter ihr versammelt zu haben. Sie hockten um das Feuer, und irgendwo erklang das leise Klopfen von Händen auf Häuten, die über einen Ring gespannt waren, das Rasseln der Kerne in getrockneten Kürbissen, die wie trockene Blätter raschelten, wenn man sie schüttelte, oder wie Regen, der auf ein Zeltdach trommelte. Das Feuer schwelte nur und verbreitete wenig Licht, so daß Kassandra nur den leichten Hauch der schwachen Hitze spürte.
In der dunklen Stille am Feuer erhoben sich drei der ältesten Frauen des Stammes und warfen den Inhalt eines kleinen Körbchens in die Glut. Trockene Blätter flammten auf, verglühten, und dichte, weiße duftende Rauchwolken stiegen auf. Im Zelt verbreitete sich ein merkwürdig trockener süßlicher Geruch. Als Kassandra ihn einatmete, wurde ihr schwindlig, und seltsame Farben tanzten vor ihren Augen. Sie spürte den quälenden Hunger nicht mehr.
In die Dunkelheit sagte Penthesilea: »Meine Schwestern. Ich kenne euren Hunger. Teile ich ihn nicht? Jedem, der nicht bereit ist, bei uns zu bleiben, steht es frei, zu den Männern in die Dörfer zu gehen. Sie werden das Essen mit euch teilen, wenn ihr euch zu ihnen legt. Aber bringt die so geborenen Töchter nicht zu unserem Stamm. Ihr müßt sie zurücklassen, damit sie Sklavinnen werden, denn ihr habt euch als Sklavinnen erwiesen. Wer von euch gehen möchte, der soll es jetzt tun, denn er darf nicht bleiben, wenn wir die jungfräuliche Jägerin um Rat bitten, die die Freiheit der Frauen hochhält. «
Stille; keine Frau in dem rauchigen Zelt bewegte sich.
»Dann, meine Schwestern, wollen wir in unserer Not SIE anrufen, die für uns sorgt. «
Wieder herrschte Schweigen im Zelt; man hörte nur das leise Trommeln. Dann zerriß ein langer gespenstischer Schrei die Stille.
» Ouw-ooooo-ooooo-ooooou! «
Im ersten Augenblick glaubte Kassandra, ein Tier schleiche um das Zelt. Dann sah sie die offenen Münder und zurückgeworfenen Köpfe der Frauen. Das Geheul ertönte noch einmal und noch einmal; die Gesichter der Frauen wirkten nicht mehr ganz menschlich. Die klagenden Schreie hielten an, hoben und senkten sich, während die Frauen sich wiegten und sie immer wieder anstimmten, während andere ein kurzes »Jip-jip-jip-jip-jip… jip-jip-jip« hervorstießen, bis die Stimmen das ganze Zelt erfüllten und auf Kassandra einhämmerten. Sie mußte sich dagegen stemmen, um nicht in den Strudel hineingezogen zu werden. Sie hatte erlebt, wie die Göttin über ihre Mutter gekommen war, aber das war nie in einem solchen wahnsinnigen Tumult geschehen.
Zum ersten Mal seit vielen Monden sah Kassandra plötzlich Hekabes Gesicht vor sich und schien ihre sanfte Stimme zu hören:
Es ist nicht Brauch …
Warum nicht?
Für einen Brauch gibt es keinen Grund. Es gibt ihn, das ist alles … Kassandra hatte es damals
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