Die Feuer von Troia
Meer sehen. Genau wie in Troia , dachte Kassandra. Allerdings leuchtete dieses Meer nicht so intensiv blau, wie sie es von zu Hause erinnerte, sondern war dunkelgrau und ölig. Männer beluden und entluden friedlich Schiffe, die im Hafen ankerten. Die Schiffe gehörten nicht Piraten oder Räubern, sondern Händlern. So viele Schiffe vor Troia wären ein Zeichen von Unglück oder Krieg gewesen.
Und doch sah sie wieder Schiffe vor Troia liegen. So viele Schiffe, daß sie das Blau des Meeres verdunkelten …
Mit einem Ruck rief Kassandra sich wieder in die Gegenwart zurück. Hier gab es keine Gefahr.
Penthesilea berührte sie am Arm. »Was ist? Was hast du gesehen?«
»Schiffe«, murmelte Kassandra, »Schiffe, die Troia bedrohen…« »Das wundert mich nicht, wenn Priamos so weitermacht, wie er angefangen hat«, sagte ihre Tante trocken, »dein Vater hat versucht, eine Macht an sich zu reißen, obwohl er nicht stark genug ist, sie zu halten. Und eines Tages wird diese Macht auf die Probe gestellt werden. Aber wir dürfen Königin Imandra nicht auf uns warten lassen. «
Kassandra war es nie in den Sinn gekommen, das Vorgehen ihres Vaters in Frage zu stellen. Aber sie erkannte die Wahrheit dessen, was Penthesilea gesagt hatte. Priamos verlangte Tribut von allen Schiffen, die die Meerenge passierten, um dieses Land zu erreichen. Bis jetzt hatten die Achaier ihm den Zoll bezahlt, weil das weniger aufwendig war als eine Flotte aufzustellen, um der Forderung des Königs von Troia zu trotzen. Kassandra betrachtete sich die Eisentore, und sie wußte plötzlich, daß das Eisen früher oder später eine völlig neue Lebensweise mit sich bringen würde…
Sie schüttelte unwillig den Kopf und sagte sich, es mangle ihr an Wirklichkeitssinn. lhr Vater war stark. Er hatte viele Krieger und viele Verbündete. Er konnte Troia ewig halten. Vielleicht wird auch Troia eines Tages Stadttore aus Eisen haben wie Kolchis.
Während sie durch breite Gänge schritten, hoben die Frauen der Wache - sie trugen Brustharnische aus Bronze und mit Metall eingelegte Lederhelme - zum Gruß die Faust. Sie erreichten einen hohen Raum mit einer Öffnung in der Decke, die mit durchscheinendem grünen Stein geschlossen war. In der Mitte des Raumes stand ein hoher Thron aus Marmor, auf dem eine Frau saß. Sie sah mit ihrem gehämmerten silbernen Brustharnisch wie eine Kriegerin aus. Aber darüber trug sie einen kostbaren Brokatumhang aus dem fernen Süden und darunter ein leichtes Kleid aus dem feinen ägyptischen Gewebe, das als »gesponnene Luft« bekannt war. Unter das Kinn hatte man ihr einen vergoldeten, geflochtenen Bart gebunden; ein Zeichen, wie Kassandra glaubte, daß Imandra nicht als Frau, sondern als König über die Stadt herrschte. Sie trug einen Gürtel mit eingelegten Steinen, an dem ein schönes Schwert hing. Die bestickten und gefärbten Lederstiefel reichten bis zu den Waden. Direkt unter dem Brustharnisch war um ihre Taille eine eigenartige Art Gürtel geschlungen, der sich mit ihrem Atem zu heben und zu senken schien. Beim Näherkommen stellte Kassandra fest, daß es eine große lebende Schlange war.
Als sie vor den Thron traten, erhob sich die Königin und sagte: »Ich grüße dich mit großer Freude, Base. Sind deine Kriegerinnen angemessen willkommen geheißen und mit Speise und Trank versorgt worden? Kann ich noch etwas tun, um dich, Penthesilea, Königin der Kriegerinnen, willkommen zu heißen?«
Penthesilea erwiderte lächelnd: »Ja, wir sind sehr gut empfangen worden, Herrin. Sag mir nun, was du von uns wünschst. Ich kenne dich schon, seit wir kleine Mädchen waren, und ich weiß sehr wohl, wenn du nicht nur mich, sondern alle meine Kriegerinnen empfängst und bewirtest, geschieht das nicht nur aus Höflichkeit. Die verwandtschaftliche Bindung fordert, daß ich und meine Frauen zu deinen Diensten stehen, Imandra. Sag mir offen, was du von uns erwartest. «
»Wie gut du mich verstehst, Penthesilea. In der Tat, ich brauche befreundete Kriegerinnen«, erwiderte Imandra mit ihrer tiefen, angenehmen Stimme. Aber zuerst wollen wir zusammen speisen. Sag mir, Base, wer ist das Mädchen? Es ist etwas zu jung, um eine deiner Töchter zu sein.«
»Es ist die Tochter unserer Verwandten Hekabe von Troia.«
»Oh?« Imandras fein nachgezogenen Augenbrauen wölbten sich zu einem eleganten Bogen.
Sie nickte einer Kammerfrau zu und schnalzte mit den Fingern. Auf dieses Zeichen hin trugen eine Reihe Sklaven juwelenbesetzte
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